| # taz.de -- Gerichtsurteil zu Homosexualität in Indien: Das Ende der Angst | |
| > Das Oberste Gericht in Indien legalisiert nach über hundert Jahren | |
| > gleichgeschlechtliche Handlungen. Es ist ein bahnbrechendes Urteil. | |
| Bild: LGBT-AktivistInnen in Bangalore feiern das Gerichtsurteil zur Entkriminal… | |
| Delhi taz Indiens Oberstes Gericht hat [1][in einem bahnbrechenden Urteil | |
| den aus der britischen Kolonialzeit stammenden Paragrafen 377 des | |
| Strafgesetzbuches abgeschafft], der „Sexualverkehr gegen die Ordnung der | |
| Natur“ unter Strafe stellte. Der Paragraf sei „irrational, nicht zu | |
| verteidigen und offensichtlich willkürlich“, begründete der Oberste Richter | |
| Dipak Mishra die Entscheidung. | |
| Damit beendet das Gericht [2][einen jahrzehntelangen Kampf für LGBTI-Rechte | |
| in Indien], der schon mehrfach zu unterschiedlichen Gerichtsurteilen | |
| geführt hatte. Bereits 2009 hatte das Höchste Gericht in Delhi geurteilt, | |
| dass ein Verbot von „einverständlichem Sex unter Homosexuellen“ gegen die | |
| Grundrechte verstoße. [3][Dieses Urteil jedoch wurde vom Obersten Gericht | |
| 2013] mit der Begründung rückgängig gemacht, dass diese Frage nicht von | |
| Gerichten, sondern vom Parlament entschieden werden müsse. | |
| „Dieses Urteil war falsch, illegal und hat Grundsätze der Verfassung falsch | |
| interpretiert“, sagt Colin Gonsalves, einer der Anwälte, die mit ihrer | |
| Petition nun erfolgreich waren. Den Aktivisten kam zugute, dass das Oberste | |
| Gericht in einem anderen bahnbrechenden Urteil zum Thema Datenschutz im | |
| Internet im letzten Jahr Bürgerinnen und Bürgern ein „Recht auf Privatheit�… | |
| zugestanden hat. Dies wurde nun erfolgreich auch für das reklamiert, was im | |
| Schlafzimmer oder andernorts stattfindet. Sexualität, so das Urteil, sei | |
| „ein essentieller Bestandteil der Privatheit“. | |
| „Das Urteil ist enorm wichtig“, sagt Meenakshi Ganguly, Südasien-Direktorin | |
| von Human Rights Watch. „Die permanente Angst vor dem Paragrafen 377, die | |
| wir alle hatten, wird für die nächste Generation nicht mehr da sein“, sagt | |
| Yashwinder Singh von der Organisation Humsafar Trust, die sich in Mumbai | |
| für LGBTI-Rechte stark macht. | |
| ## Viktorianische Sexualmoral | |
| Dabei war die Situation von Homosexuellen in Indien zu keiner Zeit mit der | |
| Verfolgung vergleichbar, die etwa in Westdeutschland unter dem | |
| „Schwulenparagrafen 175“ stattfand. Bis zu dessen Abschaffung 1994 waren | |
| dort rund 50.000 vor allem Schwule zu Gefängnisstrafen von mehreren Jahren | |
| verurteilt worden. In Indien hingegen saß noch nie jemand wegen seiner | |
| sexuellen Orientierung im Knast. | |
| „Ich bin schwul und wurde in meinem ganzen Leben noch nie diskriminiert. Es | |
| gibt keine aktive Homophobie in Indien“, sagt Abhijit Iyer-Mitra. Der | |
| 42-Jährige aus Chennai, der in Delhi für das Institute of Peace and | |
| Conflict Studies (IPCS) arbeitet, verweist darauf, dass die einzigen | |
| Verurteilungen auf Basis des Paragrafen 377 seit 1870 wegen | |
| Vergewaltigungen verhängt wurden. „Bisher war dies die einzig rechtliche | |
| Möglichkeit, die ein Mann geltend machen konnte, wenn er vergewaltigt | |
| wurde“, so Iyer-Mitra. Alle anderen diesbezüglichen Gesetze galten nur für | |
| Frauen. | |
| „Indien war historisch immer liberal, wenn es um sexuelle Unterschiede | |
| ging“, sagt auch Shashi Tharoor von der oppositionellen Kongress-Partei. | |
| „Weder in der Mythologie noch in der Tradition gab es eine Verfolgung wegen | |
| sexueller Abweichung“, so der Parlamentsabgeordnete und Buchautor aus | |
| Kerala. Das christliche Konzept, wonach Geschlechtsverkehr nur der | |
| Fortpflanzung dienen darf, war in Indien unbekannt – bis die britischen | |
| Kolonialherren ihre viktorianische Sexualmoral verordneten. Diese | |
| beeinflusste dann 150 Jahre die indische Gesellschaft, in der sich ohnehin | |
| viele Traditionen und Religionen gemischt haben. | |
| Tharoor gehört zu den wenigen Politikern, die sich aktiv für die | |
| Abschaffung des Paragrafen 377 eingesetzt haben. Die meisten Politiker | |
| waren opportunistisch, denn die Wählergruppe der Lesben und Schwulen schien | |
| nicht groß genug, um es sich im Zweifelsfall mit konservativen | |
| Religionsvertretern zu verscherzen. Zwar wirft Tharoor der regierenden | |
| hindunationalistischen BJP vor, sie würde ihre eigene hinduistische | |
| Tradition falsch interpretieren. | |
| Doch dies ist Wahlkampfgetöse, denn seine eigene Kongress-Partei hat in | |
| ihren mehr als 40 Regierungsjahren den Paragrafen 377 auch nicht | |
| abgeschafft. „Keine Regierung war bisher besonders hilfreich, deshalb sind | |
| wir auch vor Gericht gegangen“, sagt Anjali Gopalan von der Naz-Foundation, | |
| die hinter den Kampagnen gegen den Paragrafen 377 steht. | |
| Das Urteil zeigt auch Indiens gesellschaftlichen Wandel, dem die Politik | |
| hinterherhinkt. „Dies ist ein historischer Tag für Menschen, die an gleiche | |
| Rechte für alle glauben“, [4][twitterte Bollywood-Star Aamir Khan.] „Das | |
| Gericht hat seine Pflicht getan, nun müssen wir unsere tun.“ | |
| 6 Sep 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] /LGBT-Aktivist-ueber-Urteil-in-Indien/!5533865 | |
| [2] /Indisches-Queer-Magazin/!5050920 | |
| [3] /Homosexualitaet-in-Indien-wieder-strafbar/!5052958 | |
| [4] https://twitter.com/aamir_khan/status/1037616051025076224 | |
| ## AUTOREN | |
| Britta Petersen | |
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