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# taz.de -- Großrazzien in Berlin-Neukölln: „Das ist reine Show“
> Ahmed Abed, Neuköllner Linken-Politiker, kritisiert die Großrazzien auf
> der Sonnenallee als stigmatisierend. Die Maßnahmen verstärkten
> Ausgrenzung.
Bild: „Die große ‚Wir fangen Kriminelle‘-Show lenkt von den sozialen Fra…
taz: Herr Abed, Sie waren kürzlich in mehreren Shisha-Bars und einem Imbiss
an der Sonnenallee, die alle bei einer Großrazzia Ende März durchsucht
wurden. Was haben Ihnen die Gastwirte erzählt?
Ahmed Abed: Der Imbissbesitzer erzählte, die Sonnenallee sei zwei Stunden
lang auf beiden Fahrstreifen gesperrt gewesen. Die Polizei war mit rund 350
Leuten vor Ort – und einem Haufen Journalisten. Das war eine dieser in
Neukölln inzwischen üblichen „Schwerpunkteinsätze“ vom Zoll. Mit
Unterstützung der Polizei kontrollieren sie zum Beispiel die
Kohlenmonoxid-Belastung, suchen nach unversteuertem Tabak und
Schwarzarbeit. Sie sagen, es gehe ihnen um die Clan-Kriminalität, auf die
sie durch gewerbe- und ordnungsrechtliche Maßnahmen Druck ausüben.
Und was sagen Sie?
Die Läden und ihre Besitzer werden mit solchen Razzien öffentlich
vorverurteilt, und eine ganze Straße wird in Mitleidenschaft gezogen. Man
lädt die Boulevardpresse ein und lässt Läden abfotografieren, die erst
einmal nichts mit Clan-Kriminalität zu tun haben. Zumindest habe ich bei
den drei zuletzt durchsuchten Shisha-Läden noch nichts von Beweisen für
eine Verbindung gehört. Es wird über unverzollten Tabak gesprochen – und
das ist noch lange keine organisierte Kriminalität!
Warum das Ganze?
Das ist reine Show. Vor allem, um Stärke zu zeigen. Das sieht man auch
daran, dass Zoll und Polizei in zwei Läden nur ganz kurz drinnen waren. 20,
30 Polizisten, so erzählte ein Besitzer, seien in sein Geschäft gekommen
und in die Küche gestürmt, wo außer ein paar Töpfen mit Shisha-Tabak nicht
viel steht. Nach zwanzig Minuten seien sie wieder weg. Warum braucht man
für eine solche Aktion 350 Polizisten? Da würden auch fünf oder zehn
reichen. Das ist doch sehr ineffizient und geht zu Lasten der ganzen
Sonnenallee, ganz Nord-Neuköllns. Diese Razzien vermitteln ja den Eindruck,
halb Neukölln sei kriminell – und nicht, dass die meisten Leute einfach
ihrer Arbeit nachgehen.
Die Geschäftsleute fühlen sich diskriminiert?
Ja klar! Diese Shisha-Bars wurden schon zum dritten Mal kontrolliert. Sie
berichten von ausbleibender Kundschaft, weil überall geredet werde, dass
sie möglicherweise mit der organisierten Kriminalität zu tun haben.
Könnte das nicht auch stimmen?
Ja gut, das weiß man erst mal nicht. Aber man kann doch nicht dreimal mit
Dutzenden Polizisten dieselben Lokale durchsuchen – ohne Ergebnis, außer
vielleicht zu viel Kohlenmonoxid – und immer noch sagen, wir gehen hier
gegen organisierte Kriminalität vor. Man müsste doch langsam mal
irgendetwas vorweisen können: dass dort zum Beispiel Drogen- oder
Waffenhandel betrieben wird, vielleicht nicht vom Inhaber, dann aber
wenigstens von Einzelpersonen, die dort verkehren. In einem der Läden war
ja manchmal der erschossene Nidal – mehr wissen wir nicht.
Sie kritisieren also, dass mit einer sinnlosen Aktion die ganze Sonnenallee
stigmatisiert wird?
Das Problem haben wir ja sowieso die ganze Zeit. Die AfD nimmt den Bezirk
ja immer als Beispiel für verfehlte Integration. Es war auch eine Forderung
der AfD vor ein paar Monaten in der Bezirksverordnetenversammlung,
Shisha-Bars auf der Sonnenallee gezielt wegen Kohlenmonoxid, Tabakhandels
oder anderer gewerberechtlicher Fragen zu belangen. Und genauso machen es
jetzt die SPDler, der Neuköllner Bürgermeister Martin Hikel und der
Innensenator Andreas Geisel! Für mich hört sich das nach Wahlkampf an.
Der Leiter des Polizeiabschnitts sagte kürzlich, die Schwerpunkteinsätze
würden absichtlich groß und mit Medienbegleitung gemacht, damit die
Bevölkerung in ihrem Sicherheitsgefühl gestärkt wird.
Leute, die wirklich Angst haben, werden nicht in die Sonnenallee gehen. Und
Menschen, die die Straße kennen, wissen, dass man hier ohne Angst
entlanglaufen kann. Was klar ist: Wir haben hier sehr große soziale
Probleme, etwa Arbeitslosigkeit oder hohe Mieten. Und die große „Wir fangen
Kriminelle“-Show lenkt sehr von den tatsächlichen ungelösten sozialen
Fragen ab.
Weiß man überhaupt etwas darüber, wie groß das Problem der
Clan-Kriminalität ist? Es kursierte mal die Zahl, dass jeder dritte Laden
auf der Sonnenallee Schutzgelder zahlen müsse.
Ich weiß darüber nichts. Die Geschäftsleute, mit denen ich spreche, haben
das noch nie erwähnt.
Das würde man Ihnen doch nicht sagen.
Doch, ich denke schon. Das ist aber noch nicht passiert. Ein Barbesitzer
meinte: Kein Problem, er habe vor Bedrohungen keine Angst, weil es doch die
Polizei gibt.
Manche sagen, das Problem mit den kriminellen arabischen Clans wurde
mitverursacht, weil viele Libanesen lange nur Duldungen bekamen und keine
Arbeitserlaubnisse.
Ja, das ist eines der größten Probleme. Sie sind hierhergekommen wegen des
Bürgerkrieges im Libanon oder aus Palästina geflohen. Keiner hat sie hier
willkommen geheißen, sie bekamen wenig Unterstützung, im Zuge des ganzen
Sozialabbaus wurde die Hilfe noch geringer. Jeder, der sich damit
beschäftigt, weiß, dass Kriminalität viel mit dem Ausschluss zu tun hat,
den die Leute erlebt haben.
Eine Entschuldigung, kriminell zu werden, ist das aber nicht.
Absolut nicht. Wir müssen Kriminalität aber als gesellschaftliches Problem
wahrnehmen. Man kann das mit repressiven Mitteln angehen oder mit sozialen
Maßnahmen, indem man etwas gegen die Armut in Neukölln tut. Und ich bin
nicht überzeugt, dass es mit 350 Polizisten vor einer Shisha-Bar getan ist.
Viele Neuköllner fühlen sich ja sowieso ausgeschlossen, weil sie
migrantisch sind oder arm. Sie werden diskriminiert, besonders als
Kopftuchträgerinnen, in der Schule, bei Jobs, bei der Wohnungssuche. Solche
Aktionen bestätigen sie darin, dass sie anders behandelt werden. Ich meine,
sie sind das gewohnt, sie rennen nicht gleich zum Anwalt, wenn sie in eine
Razzia kommen. Aber das Misstrauen gegen den Staat wächst dadurch weiter.
14 Apr 2019
## AUTOREN
Susanne Memarnia
## TAGS
Razzien
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Kriminalität
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