# taz.de -- Schulprojekt gegen Religionskonflikte: Stört Religion den Schulfri… | |
> Neukölln will ein Projekt gegen Schulkonflikte infolge „konfrontativer | |
> Religionsbekundung“ aufsetzen. Kritiker halten es für | |
> „antimuslimisch“. | |
Bild: Religionsbekundung als Konfliktursache: Weihnachtsdekoration in einer Gru… | |
Neukölln will wieder einmal Vorbild sein. Wie schon bei den Razzien in | |
Shisha-Bars, mit denen der Bezirk Stärke gegenüber „arabischen Clans“ | |
demonstrieren will, oder den „Schnellverfahren“ gegen delinquente | |
Jugendliche, die als „Neuköllner Modell“ stadtweit Schule machten, zielt | |
auch das neue Vorhaben auf ein Thema der Migrationsgesellschaft – und birgt | |
politischen Sprengstoff. | |
Das Projekt mit dem sperrigen Titel „Anlauf- und Dokumentationsstelle | |
konfrontative Religionsbekundung“ befasst sich mit einem seit Jahren | |
bekannten Phänomen: religiös konnotierten Konflikten an Schulen. Träger ist | |
der Verein DeVi (Demokratie und Vielfalt), der seit 10 Jahren Schulen bei | |
Problemen mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Diskriminierung | |
unterstützt. DeVi sieht in solchen Konflikten eine zunehmende Gefahr für | |
den Schulfrieden. | |
Gehört oder gelesen hat wohl jede*r von solchen Vorkommnissen: dass | |
liberale muslimische Schüler*innen gemobbt werden, wenn sie im Ramadan | |
nicht fasten oder als Mädchen kein Kopftuch tragen. Dass Eltern ihren | |
Kindern die Teilnahme am Sport untersagen, Schüler*innen Gebetsräume | |
verlangen oder sich antisemitisch, antichristlich oder islamistisch äußern. | |
Insbesondere an Schulen mit einem hohen Anteil an muslimischen | |
Schüler*innen „gibt es einen totalen Anpassungsdruck“, sagte DeVi-Leiter | |
Michael Hammerbacher am Montag bei der von seinem Verein organisierten | |
Online-Fachtagung „Konfrontative Religionsbekundung“. Die Situation sei | |
teilweise vergleichbar mit der rechtsextremistischen Dominanz in „national | |
befreiten Zonen“ Ostdeutschlands in den 90ern: „Wir haben ein ähnliches | |
Phänomen auf manchen Schulhöfen“, so Hammerbacher: „Das ist meiner Ansicht | |
nach demokratiegefährdend.“ | |
Dennoch sei das Phänomen wissenschaftlich und pädagogisch unterbelichtet, | |
und Schulen würden damit weitgehend allein gelassen, so DeVi. Eine erste | |
Bedarfsanalyse des Vereins mittels qualitativer Interviews mit | |
pädagogischem Personal an zehn Neuköllner Schulen habe ergeben, dass 50 | |
Prozent eine „hohe Problemwahrnehmung des Phänomens“ haben, 37 Prozent eine | |
„geringere“ und 13 Prozent (1 Schule) keine, erklärte Hammerbacher auf der | |
Tagung. Mit der geplanten Anlauf- und Registerstelle wolle man nun „mehr | |
Licht ins Dunkel“ bringen, Vorfälle dokumentieren und Schulen bei der | |
Bearbeitung solcher Konflikte helfen, heißt es in einer frisch aufgelegten | |
[1][Broschüre]. | |
Tatkräftig unterstützt wird der Verein dabei vom Neuköllner Bezirksamt. | |
Sowohl Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) – „[2][bundesweites | |
Pilotprojekt, mit dem Neukölln hier vorangeht“] – als auch Sozialstadtrat | |
Falco Liecke (CDU) setzten sich dafür ein, dass DeVi dafür Mittel aus dem | |
Bundesprogramm „Demokratie leben“ bekommt. Trotzdem misslang dies zunächst, | |
das Familienministerium hatte inhaltliche Kritik, erst im zweiten Anlauf | |
gab es 59.000 Euro für die Bedarfsanalyse sowie die erwähnte Broschüre und | |
Fachtagung. Ob es im Januar weitergeht mit der Einrichtung der | |
Anlaufstelle, ist ungewiss. | |
Dagegen kämpft auf politischer Ebene vor allem der Neuköllner | |
Bezirksverordnete Ahmed Abed von der Linkspartei. Er halte das Projekt für | |
„antimuslimisch“ und „sehr gefährlich“, erklärte er auf der Tagung. Er | |
monierte zudem die fehlende „Multiperspektivität“: die Sichtweise der | |
Schüler*innen auf Vorfälle würde nicht erfasst. Auch das | |
Familienministerium habe in seiner ersten Ablehnung des Förderantrags auf | |
eine wissenschaftliche Untersuchung verwiesen, nach der sich 2/3 aller | |
Fälle in Clearingverfahren als anders herausstellten als zunächst von | |
Lehrer*innen geschildert. | |
Auf der Online-Tagung gab es für das Projekt viel Zustimmung, aber auch | |
Ablehnung. So äußerte Fereshta Ludin, jene Lehrerin, die 2003 das erste | |
„Kopftuch-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts auslöste, wie Abed die | |
Befürchtung, dass Lehrer*innen alle möglichen religiösen Äußerungen von | |
muslimischen Schüler*innen als „konfrontativ“ subsumieren könnten. Goran | |
Subotic, Lehrer in Neukölln, berichtete von einer Klassenlehrerin, die | |
einen Vermerk ins Klassenbuch geschrieben habe, dass wer immer in der | |
Klasse „inshallah“ sage, als Strafarbeit 20 Mal schreiben müsse: „Ich we… | |
nie wieder inshallah sagen“. Nicht nur der Klassenlehrerin, auch anderen | |
Fachlehrer*innen sei nicht aufgefallen, dass das nicht in Ordnung sein | |
kann. | |
Hammerbacher wies die Vorwürfe zurück: Das Projekt richte sich gegen | |
„Konfrontationen“ durch Anhänger*innen aller Religionen – aber in der | |
Tat seien die bisher bekannten Fälle von Muslim*innen ausgegangen. | |
## Religionskonflikte sind anders zu betrachten als Mobbing | |
Deutlich wurde auf der Tagung, dass der Begriff „konfrontative | |
Religionsbekundung“ in der Fachwelt, wo er seit einigen Jahren von manchen | |
benutzt wird, um Radikalisierungsprozesse von Jugendlichen in Richtung | |
Islamismus zu beschreiben, hoch umstritten ist. Vor allem deshalb, weil er | |
die Religion zu einem besonderen Konfliktfeld mache, das anders zu | |
behandeln sei als andere Konflikte beispielsweise im Zusammenhang mit | |
Mobbing oder Beleidigungen, erklärt Götz Nordbruch von [3][ufuq.de], einem | |
Träger der freien Jugendhilfe mit Schwerpunkt Präventionsarbeit. „Für uns | |
ist wichtig: Regelbrüche sind zu sanktionieren, aber unabhängig davon, wie | |
der Regelbruch begründet wird. Schließlich ist eine homofeindliche Aussage | |
immer beleidigend, da spielt es erst mal keine Rolle, ob ich mich dabei auf | |
eine Religion beziehe oder nicht.“ | |
Oft steckten hinter Provokationen aber ganz „normale Themen“, so Nordbruch. | |
So sei die Forderung nach einem Gebetsraum nicht immer Ausdruck eines | |
religiösen Bedürfnisses, sondern könne auch eine Reaktion auf die | |
Widersprüchlichkeit des Systems Schule sein. Schulen verstünden sich ja als | |
weltanschaulich „neutral“, zugleich seien aber Weihnachtsfeiern die Regel. | |
„Hier sind auch die Schulen in einer Bringschuld, sie müssen bereit sein, | |
zu diskutieren und Gewohnheiten zu hinterfragen“, findet Nordbruch. | |
Genau dies wollen die Befürworter*innen des Projekts wohl gerade | |
nicht. Das könnte zumindest glauben, wer sich dessen Entstehungsgeschichte | |
ansieht. Die geht offenbar zurück auf eine Erklärung der „Initiative Pro | |
Neutralitätsgesetz“ vom Februar 2021. Damals hatte Bildungssenatorin Sandra | |
Scheeres (SPD) Verfassungsbeschwerde eingelegt, um das Gesetz, das unter | |
anderem Lehrer*innen das Tragen religiöser Kleidung verbietet, zu | |
retten. Die Initiative lobte dies, [4][forderte aber zusätzlich „ein | |
Register] für die Erfassung und Dokumentation von Fällen konfrontativer | |
Religionsbekundung und religiösen Mobbings an Berliner Schulen“. Nur damit | |
könnten „konkrete Gefahrensituationen gerichtsfest dokumentiert werden“. | |
Solche Fälle von gestörtem Schulfrieden hatte das oberste deutsche Gericht | |
2015 in seinem letzten „Kopftuch-Urteil“ zur Bedingung für Kopftuch-Verbote | |
an einzelnen Schulen gemacht. | |
Unterschrieben ist die Erklärung unter anderem von Michael Hammerbacher. | |
Wie praktisch, dass er auch den Verein DeVi leitet, der die Anlaufstelle | |
zur Rettung des Neutralitätsgesetzes nun ins Leben rufen soll. | |
27 Dec 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://demokratieundvielfalt.de/wp-content/uploads/2021/12/DEVI_Broschuere… | |
[2] https://www.berlin.de/ba-neukoelln/aktuelles/pressemitteilungen/2021/presse… | |
[3] http://www.ufuq.de | |
[4] http://pro.neutralitaetsgesetz.de/berliner-neutralitaetsgesetz-wird-dem-bun… | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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