# taz.de -- Gerichtsdrama „Ökozid“ im Ersten: Verbrechen gegen das Klima | |
> Der Regisseur Andres Veiel fragt im Gerichtsdrama „Ökozid“, ob der | |
> Globale Süden Deutschland wegen des Klimawandels verklagen kann. | |
Bild: Wiebke Kastager (Nina Kunzendorf) leitet im ARD-Gerichtsverfahren das Tea… | |
BERLIN taz | Dampfschwaden steigen aus Kraftwerkstürmen, Wirbelstürme jagen | |
über das Land, Brände fressen sich durch Wälder, Sturmfluten überschwemmen | |
Küsten. So sieht der Sommer 2034 aus. Wir sehen diese Bilder im | |
Splitscreen. | |
„Ökozid“ ([1][ARD-Mediathek]) ist ein Gerichtsdrama – das geteilte Bild, | |
das Regisseur Andres Veiel mehrfach nutzt, soll nicht nur das recht | |
spartanische Genre visuell aufpolieren. Der Splitscreen rückt das | |
Auseinanderliegende zusammen, die Industrie im Westen, die Katastrophen | |
im Globalen Süden. | |
Der Plot: Ärmere Staaten im Süden klagen gegen die Bundesrepublik auf 60 | |
Milliarden Euro Entschädigung pro Jahr, weil unsere SUVs und | |
[2][Kohlekraftwerke den Klimawandel anheizen]. Die Klägerinnen berufen sich | |
auf das Menschenrecht auf Leben und ein Recht der Natur auf Unversehrtheit. | |
Die Verteidiger sehen die Demokratie auf der Strafbank gesetzt. Der Prozess | |
findet im trockenheißen Berlin statt, der Internationale Gerichtshof in Den | |
Haag steht unter Wasser. | |
Strafe für Staaten wegen Ökodelikten? Das klingt ferner, als es ist. | |
Internationales Recht ist flexibel. Im Jahr 1980 konnte sich auch kaum wer | |
vorstellen, dass 20 Jahre später [3][Kriegsverbrecher von einem | |
internationalen Strafgerichtshof] verurteilt würden. Deutschland wird in | |
„Ökozid“ angeklagt, weil China, die USA und Russland den Gerichtshof | |
boykottieren. Auch nicht unrealistisch. Das Szenario ist klug durchdacht – | |
wir schauen durch ein Zukunftsszenario auf das Heute. Diese intellektuelle | |
Rückspiegelung ist eine moralische Selbstbefragung: Was machen wir falsch? | |
## Das Drama ist eine Debatte, keine Verurteilung | |
Veiel inszeniert kein Tribunal „Gut gegen Böse“, sondern ein rhetorisches | |
Ringen zwischen dem soliden, interessegeleiteten bundesdeutschen | |
Pragmatismus und globaler Moral. Viele Halbtotalen, weniger Nahaufnahmen. | |
„Ökozid“ will nicht suggerieren, sondern zur Debatte stellen. | |
Der Konflikt ist gendermäßig allerdings etwas übereindeutig besetzt: Die | |
Anklägerinnen (Nina Kunzendorf als erfahrene ältere Juristin, Friederike | |
Becht als vor Engagement vibrierende Ex-Aktivistin) streiten für Moral und | |
Schwächere, die Männer (Edgar Selge als souveräner Richter, Ulrich Tukur | |
als Anwalt der Bundesrepublik) verkörpern die Logik des Status quo. Zeugen | |
pro und contra treten auf – EU-Kommissare und Konzernchefs, wortkarge | |
Bauern und beredte Umweltaktivsten. Und Angela Merkel (Martina | |
Eitner-Acheampong), die Ex-Kanzlerin. | |
In den meist soliden, mal geistreichen Wortgefechten wird sichtbar, dass | |
die [4][deutsche Politik in Brüssel Klimaschutz nach 2000 wirksam | |
sabotierte]. Um die Industrie zu schützen, verhinderten Merkel & Co einen | |
Emissionshandel mit Preisen, die wirklich zur CO2-Einsparung geführt hätte. | |
Das Gleiche wiederholte sich ein paar Mal bei der Autoindustrie. Dort trat | |
Deutschland immer auf die Bremse, wenn die Gefahr drohte, dass Mercedes, | |
Porsche und VW weniger SUVs verkaufen könnten. | |
Veiel hat das Dokumentarische und das Fiktionale schon in den | |
Theaterstücken [5][„Let them eat money“] und [6][„Himbeerreich“] verfu… | |
Wie dort ist in „Ökozid“ die analytische Brillanz verkoppelt mit einer | |
inszenatorischen Schwäche. Die Übersetzung von Ideen in Figuren gelingt nur | |
halb. Die Rivalität der beiden Anklägerinnen wirkt papieren. Vor Gericht | |
kommentieren Kläger und Verteidiger das Geschehen meist mit erhobener | |
Augenbraue, bedenklichem Blick, gerunzelter Stirn. | |
## Kein Humor, aber dafür eine einsichtige Angeklagte | |
Ulrich Tukur sagte, dass er die Textmenge, die er zu lernen hatte, als noch | |
größere Zumutung als den Klimawandel empfand. Das ist ein kleiner Verweis | |
darauf, dass Humor in „Ökozid“ so rar ist wie ökologische Einsicht in den | |
Chefetagen deutscher Autokonzerne. Eher verwirrend wirkt der in groben | |
Strichen gezeichnete Internetnerd, der im Auftrag der Bundesregierung | |
Verschwörungsthesen unter die Leute bringt. | |
Das Entscheidende aber gelingt – die plausible Inszenierung eines | |
Zukunftsbilds, in dem wir unser jetziges Desaster erkennen mögen. Die | |
futuristischen Gadgets sind unaufdringlich ins Bild gerückt. | |
Hitzeabweisende silbrige Vorhänge, Mikrofone am Hals, transparente | |
Bildschirme. Am Ende spricht eine einsichtige Angeklagte das Urteil – gegen | |
sich selbst. Moral und Pragmatismus sind versöhnt. Das ist dann doch nahe | |
an Science-Fiction. | |
18 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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