# taz.de -- Doku „Lettre à G.“ über Philosoph André Gorz: Briefe an G. | |
> Ein Dokumentarfilm zeigt den französischen Sozialphilosophen und | |
> Umweltaktivisten André Gorz, der heute beinahe vergessen ist. | |
Bild: André Gorz und seine Frau Dorine Kain, Anfang der 1950er Jahre | |
Vosnon, ein französisches Dorf mit gerade 200 Seelen, liegt in der | |
Champagne pouilleuse. Das ist nicht der Schaumwein-Teil der Region 170 | |
Kilometer südlich von Paris, sondern eine arme Gegend, in der früher nur | |
Schafe Nahrung fanden. Längst von dort weggezogen ist Manon, eine junge | |
Frau, die bei einem Besuch in der alten Heimat beobachtet, wie ein | |
deutsches TV-Team Equipment in ein Haus schleppt. | |
Warum interessiert sich das Fernsehen für jemanden aus unserem Kaff, fragt | |
sie sich und erfährt, dass der Interviewte André Gorz heißt und ein | |
gesuchter Philosoph ist, der mit seiner Frau Dorine schon vor ihrer Geburt | |
in dem von einem großen Garten umgebenen Anwesen lebte. Manon beschließt, | |
etwas von ihm zu lesen und beginnt mit den ergreifenden „Briefen an D.“, | |
Gorz’ Liebeserklärung an seine Frau und der einzige Bestseller des Autors. | |
Der einmal bekannt war, aber nie ein Medienstar und heute fast vergessen | |
ist. | |
Sein 1967 erschienenes Buch „Reform oder Revolution“ war eine Fibel der | |
68er, und wir deutschen „Gorzianer“ betraten des Öfteren das Landhaus in | |
der Rue de Maraye, wohin sich das Paar 1984 zurückgezogen hatte. Unter dem | |
Pseudonym Michel Bosquet brachte es der „philosophische Journalist“ (Rupert | |
Neudeck) bis zum stellvertretenden Chefredakteur des linken Wochenmagazins | |
Le Nouvel Observateur. | |
Doch den hatte er Anfang der 1980er Jahre satt und mit den Pariser | |
Meisterdenkern ohnehin nichts am Hut. Mit dem Rückzug in die Champagne | |
begann eine neue produktive Phase mit grundlegenden Beiträgen zur | |
politischen Ökologie (und Freiheit), doch Gorz gärtnerte auch und wies uns | |
stolz auf die von ihm gepflanzten Bäume hin. Die lebenslustige Dorine war | |
chronisch krank, und als sich ihr Zustand 2007 verschlechterte, haben sich | |
die beiden einvernehmlich gemeinsam das Leben genommen. Ohne sie wollte | |
auch er nicht mehr leben. | |
## Als Gérard gerufen | |
Gorz wurde Gérard gerufen, nach seinem Vornamen als Wiener „Halbjude“ | |
Gerhard Horst, der 1938 von seiner katholischen Mutter ins Exil in ein | |
Schweizer Internat geschickt wurde, nach dem Krieg von dort nach Frankreich | |
ging und im Umkreis Jean-Paul Sartres und der Zeitschrift Les Temps | |
Modernes eine unauffällig wichtige Rolle spielte. | |
Auch davon löste er sich und wurde zum frühen Vordenker der politischen | |
Ökologie und der Anti-AKW-Bewegung. Das ist ewig her, doch ist Gorz ein | |
hochaktueller Autor. Wie vermittelt man ihn einer jüngeren Leserschaft? Auf | |
charmante Weise versucht das der Dokumentarfilm „[1][Umdenken! Mit André | |
Gorz zu einer neuen Gesellschaft“,] der Gorz’ politische Philosophie mit | |
den Augen Manons (dargestellt von einer Schauspielerin) liest. Der gut | |
einstündige Film ist jetzt endlich mit deutschen Untertiteln versehen und | |
er eignet sich bestens für deutschsprachige Interessenten, die sich | |
gemeinsam mit der Protagonistin unter einen Baum setzen und in Gorz’ Texten | |
schmökern mögen. | |
„Brief an G.“ ist ein postumer Dialog in Briefform. Sein Anfang wirkt | |
leicht kitschig. Man sieht den hageren Mann, ein schüchternes Lächeln auf | |
den Lippen, vor über zwei Jahrzehnten in grauem Schlabberpulli und | |
Gummistiefeln in einen Feldweg einbiegen und dort Flugbewegungen ausführen, | |
die die Kamera aufgreift, bevor sie an einer Drohne über die staubigen | |
Felder der Champagne abhebt. André Gorz hatte diese romantische Seite, die | |
im Flugversuch zum Ausdruck kommt. | |
Dann kommt der Schnitt auf die radelnde Protagonistin, sie klettert über | |
eine Gartenmauer und betritt das unberührt wirkende Haus, macht einen | |
Besuch in der Bibliothek der Kreisstadt, wo eine kleine Gorz-Bücherei | |
wartet. Die eifrige Leserin möchte Antworten finden auf ihr eigenes | |
Unbehagen an der technischen Zivilisation und deren Wachstumsversessenheit. | |
Der Sozialphilosoph legt die Gründe der Entfremdung dar, mit freundlicher | |
Stimme (in der immer ein wenig Wien nachklang) betreibt er, endlich | |
verständlich, Marx-Exegese und erläutert seine Gedanken zur Konvivialität, | |
die er mit Ivan Illich teilte, dem anderen großen Außenseiterpropheten der | |
1970er Jahre. | |
Meist schon ergraute [2][Theoretiker, Freunde und Gefährten] interpretieren | |
weitere Schriften von Gorz, in denen ein Freund die Einsicht in den | |
Klimawandel vermisst, der für Gorz, auch noch im Kampf dagegen, ein | |
Höchstmaß an Heteronomie beinhaltete. Man versteht Gorz’ gewolltes | |
Außenseitertum, das er uns gegenüber auf die paradoxe Formel brachte: „Die | |
ich wählte, wiesen mich ab; die ich abwies, wählten mich“, womit eben nicht | |
nur Franzosen und Deutsche gemeint waren. | |
## Erinnerungen ans antisemitische Wien | |
Gorz’ Biograf [3][Willy Gianinazzi] durchblättert Fotoalben und | |
Erinnerungen an das antisemitische Wien, die Gorz’ existenzialistische | |
Selbstidentifikation in seinem philosophischen Roman „Der Verräter“ (1957) | |
zur Folge hatten und bei ihm Autonomie und Rebellion freisetzten – wie er | |
selbst gesagt hat, ein „bitteres Los“. | |
Der ruhige Film verbindet Interview-Originaltöne aus den 1990er Jahren mit | |
den inneren Monologen Manons, die zwischen Paris und Vosnon pendelt. Sie | |
diskutiert Gorz’ Ideen mit Zufallsbekanntschaften und besucht Aktivisten im | |
nahe gelegenen Bure, wo der atomare Müll aus französischen und europäischen | |
Kernkraftwerken endgelagert werden soll. | |
Den atomaren Komplex hat Gorz alias Bosquet stets vehement bekämpft und | |
sich dabei von der traditionellen Partei-Linken der damaligen „Union de la | |
Gauche“ distanziert. Er bevorzugte randständige, dem Anarcho-Syndikalismus | |
und der CFDT-Gewerkschaft nahestehende Organe. | |
## Problemlösungen für die Reparaturgesellschaft | |
Als Journalist hatte er konkrete Problemlösungen für die | |
Reparaturgesellschaft parat, und man ist verblüfft, wie aktuell sich seine | |
Vorschläge in der aktuellen Pandemie lesen. Das gilt für das | |
Gesundheitssystem, das ihn stets interessiert hat, und vor allem für die in | |
Coronazeiten erzwungene Arbeitslosigkeit. | |
Das von ihm früh propagierte bedingungslose Grundeinkommen bei reduzierter | |
Arbeitszeit wäre da ein Gebot der Stunde: Wir haben da immer noch die Wahl | |
zwischen einem barbarischen und selbstgewählten Weg aus der Krise, die wir | |
noch nicht zum Müßiggang zu nutzen verstehen. Im angeordneten Überfluss an | |
freier Zeit zeigt sich, wie schwer es fällt, jenseits der Lohnarbeit die | |
jeweils eigene Lebenswelt zu entwickeln. „Umdenken“, diesen | |
nachdenklichen, doch niemals hagiografischen Film voller Sympathie für den | |
antiheroischen Helden, anzuschauen, ist schon mal ein Anfang. | |
17 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://andregorz.fr/de/ | |
[2] https://www.deutschlandfunk.de/freitod-von-andre-gorz-und-seiner-frau-jeder… | |
[3] https://editionsladecouverte.fr/catalogue/index-Andr___Gorz__une_vie-978270… | |
## AUTOREN | |
Claus Leggewie | |
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