| # taz.de -- Hausbesuch: Damit der Mensch sich versteht | |
| > Wer philosophiert, zieht Lehren aus dem Leben. Und kann damit anderen | |
| > helfen. Zu Besuch bei einer, die das philosophische Denken in die Praxis | |
| > holt. | |
| Bild: Ute Gahlings in ihrem Arbeitszimmer in Weiterstadt, Hessen | |
| Das meiste ist Schicksal, das wenigste Entscheidung. Dazwischen laviert der | |
| Mensch und versucht, dem, was er erfährt, einen Sinn zu geben. Ute Gahlings | |
| meint, dass Philosophie dabei hilft. | |
| Draußen: Sie wohnt in einem weißen Reihenhaus im hessischen Weiterstadt. | |
| Der Ort ist eher Zweck- als Wunschheimat. Zu teuer waren die Häuser im nahe | |
| gelegenen Darmstadt. Ute Gahlings arrangiert sich mit dem, was ist. | |
| Ortsauswärts ist ein Sonnenblumenfeld, wo sie sich Blumen abschneiden kann. | |
| Von Weitem ertönt das Läuten von Kirchenglocken. | |
| Drinnen: Eine japanische Kalligrafie eines Zen-Künstlers hängt über dem | |
| Esstisch, ein „Ki“ für Lebenskraft. „In der Phänomenologie übersetzt m… | |
| auch gerne mit Atmosphäre“, sagt Gahlings. Ihr Arbeitszimmer ist voll | |
| gepackt mit Büchern. Dazwischen: Bilder, Ketten, Götterstaturen. Für die | |
| buddhistische Philosophie habe sie eine Schwäche, sagt sie. Über einem | |
| Bücherturm hängt eine „Schwarzwaldhexe“, eine „weise Frau“, die sich … | |
| „autorisiert“. Auch ein Porträt von Hermann Graf Keyserling hängt im | |
| Zimmer. Der Lebensphilosoph hat sie inspiriert. | |
| Ihr Guru: „Er wollte Philosophie für das Leben fruchtbar machen“, sagt | |
| Gahlings und erzählt von der „Schule der Weisheit“, die Keyserling 1920 in | |
| Darmstadt gründete. Keyserling habe schon früh individuelle Gespräche zu | |
| philosophischen Themen geführt – ähnlich, wie sie es heute tut. Die Schule | |
| der Weisheit war „ein Kulturzentrum mit ziemlich viel Renommee“. Von den | |
| Nationalsozialisten wurde sie geschlossen. | |
| Philosophische Praxis: Gahlings ist Präsidentin der Internationalen | |
| Gesellschaft für Philosophische Praxis e. V. und betreibt in Frankfurt am | |
| Main selbst eine. Dort bespricht sie moralische Probleme, etwa solche, die | |
| im Berufsleben aufkommen – wenn Menschen „nicht mehr vertreten können, was | |
| der Arbeitgeber vorgibt“. | |
| Mitfühlen: Die Praxis heißt „Solidarität“, „ich beteilige mich an der | |
| Situation eines anderen“, sagt Gahlings. Auch um Selbstkultivierung gehe es | |
| in den Gesprächen. „Das bezieht sich auf die Art, wie man mit sich umgeht.“ | |
| Und es gehe darum, sich selbst zu „entwerfen“ – in dem Bereich, wo das | |
| möglich ist. Gahlings betont, dass es wichtig sei, das Leben bewusst zu | |
| leben, es nicht verstreichen zu lassen oder sich „in irgendwelchen | |
| Lebensschleifen zu verlieren“. | |
| Jugend: Schon früh hat Ute Gahlings gelernt, dass Philosophie bei wichtigen | |
| Fragen des Lebens hilft. Damals, als ihre Schwester überfahren wurde. „Ich | |
| habe die Philosophie als lebensweltliche Orientierungsmöglichkeit | |
| kennengelernt, bevor ich sie als Wissenschaft entdeckt habe“, sagt sie und | |
| erzählt von ihrer Jugend. Geboren ist sie 1963 in Mönchengladbach, | |
| aufgewachsen in Viersen, „einer Kleinstadt an der deutsch-niederländischen | |
| Grenze“. Dort habe es wenige Orientierungsmöglichkeiten gegeben jenseits | |
| der katholischen Kirche. „Für mich war der kulturelle Brennpunkt die | |
| Bibliothek“, wo sie auch Sartre, Camus, die ganzen Existenzialisten | |
| entdeckte. „Der Aufschluss der Freiheit war sehr bedeutend für mich – dass | |
| man sein Leben entwerfen kann.“ Aber sie beschäftigte auch „die | |
| Unverfügbarkeit“, die Faktizität, die einen immer wieder einholt. „Manches | |
| widerfährt einem einfach.“ | |
| Der Einschnitt: Mit dreizehn Jahren nämlich ist ihre „Welt von Normalität | |
| zusammengebrochen“. Damals, als die Schwester starb, vor dem Haus, erfasst | |
| durch ein zu schnell fahrendes Auto. „Der Gedanke der Faktizität kommt ja | |
| aus der Phänomenologie“, sagt sie – die wird sie später noch viel | |
| beschäftigen. Der Gedanke der „Unverfügbarkeit einerseits“ und der Gedanke | |
| des Entwurfs andererseits halfen ihr zu leben – sie erkannte, „dass das | |
| Leben eigentlich aus diesen beiden Polen besteht und dass man sich | |
| dazwischen irgendwie findet und zu finden hat“. Es kamen Fragen auf, „die | |
| die Kirche nicht beantworten konnte“. Die Philosophie, sagt Gahlings, habe | |
| ihr geholfen „im Angesicht des Todes“ ihr Leben zu bestreiten. | |
| Wege: Von da an verschlang sie philosophische Bücher, studierte | |
| Philosophie, Literaturwissenschaft und Psychologie in Wuppertal. | |
| Promovierte dort zu Keyserling, den sie im Studium entdeckte. Nach | |
| Darmstadt kam sie 1992. Dort erschloss sie seinen Nachlass. „Ein | |
| Riesenprojekt, immer unter Zeitdruck.“ | |
| Arbeiten: Gahlings entschied, in der Gegend zu bleiben. „In der Zeit habe | |
| ich auch dieses Haus gekauft.“ Obgleich der Kauf „ein unglaubliches Risiko�… | |
| gewesen sei bei den befristeten Verträgen in der Wissenschaft. „Für die | |
| Familienplanung war das auch eine Katastrophe.“ Ihr Sohn ist in der Zeit | |
| geboren, 1995. „Dann habe ich erst mal ein Jahr ausgesetzt.“ | |
| Und wieder Schicksal: Bei ihrem Sohn, er war noch ein Baby, wurde Krebs | |
| festgestellt. Ihr Leben änderte sich radikal. „Ich war komplett draußen, | |
| konnte die Wissenschaft nicht weiterverfolgen“. Doch das Leben meinte es | |
| gut. Inzwischen hat ihr Sohn einen Bachelor in Informatik und seine erste | |
| Arbeitsstelle. 2008 passierte es wieder, dass sie nicht über ihr Leben | |
| entschied: „Da habe ich mich Hals über Kopf verliebt, und dann ist | |
| überraschend noch ein Kind gekommen.“ | |
| Feminismus: Nicht nur das Geworfene bei den Existenzialisten hat sie | |
| geprägt, da war mehr, da war das Feministische: „Von Simone de Beauvoir | |
| konnte man als junge Frau eine Menge lernen“, sagt sie. „Politisiert hat | |
| mich mein feministisches Denken, als ich schwanger war.“ Wegen der | |
| Benachteiligung, die sie erfuhr – auch in der Wissenschaft. „Der | |
| Wissenschaftsbetrieb war auf einen ledigen Mann ausgerichtet“, mit Tagungen | |
| am Wochenende, Vorträgen am Abend. Heute sei einiges besser geworden. | |
| Phänomenologie: In ihrer Habilitationsschrift „Phänomenologie der | |
| weiblichen Leiberfahrungen“ beschäftigt sie sich mit Feminismus im Kontext | |
| der Phänomenologie. Sie fasziniert der Ansatz, „zu den Sachen selbst“ | |
| zurückzukehren, zu sehen „was sich zeigt“. Auch in ihrer philosophischen | |
| Praxis hilft ihr die Phänomenologie, „als naive Philosophie“ zu fragen: | |
| „Wie zeigt sich die Erschöpfung, wie zeigt sich Unruhe im moralischen | |
| Sinne?“ | |
| Defizit: Gahlings beschäftigte sich neben der klassischen Phänomenologie | |
| mit der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz. Sie war neugierig, was | |
| die Neue Phänomenologie zur Leiblichkeit der Geschlechter sagt. „Und da | |
| habe ich nichts gefunden.“ In ihrer Habilitationsschrift wollte sie mit den | |
| Mitteln der Phänomenologie eine Geschlechtertheorie entwickeln. | |
| Geschlechter: Ihre Forschung hat ergeben, dass nicht die Menstruation, | |
| sondern das Brustwachstum die Entdeckung der Weiblichkeit sei. „Da prägt | |
| sich Natur aus, und Gender prägt sich auch aus, weil die Mädchen ganz | |
| anders angeschaut werden, wenn sie auf einmal Brüste haben. Da kommt der | |
| Gender-Diskurs mit voller Macht in den Leib hinein.“ | |
| Universität: Auch als Dozentin ist Gahlings tätig. „Ich bin gern | |
| Wissenschaftlerin.“ An der Universität erfährt sie jedoch auch immer wieder | |
| Skepsis. „Es gibt eine schräge Asymmetrie. Die Universitätsphilosophie | |
| guckt manchmal bisschen herablassend auf die philosophischen Praktikerinnen | |
| und Praktiker, und die philosophischen Praktiker*innen haben häufig | |
| Theorievorbehalte.“ | |
| Krisenzeiten: Zurzeit laufe alles online – nur die philosophische Praxis | |
| nicht. Auf der Darmstädter Rosenhöhe macht Gahlings philosophische | |
| Spaziergänge zwischen den Rosenbeeten. Die Philosophie sei | |
| „systemrelevant“, ist sie überzeugt. „Wenn es eine Disziplin gibt, die s… | |
| auf alles konzentriert, was im Leben passiert, dann ist das die | |
| Philosophie.“ Sie habe den Auftrag, die Menschen zu befähigen, „ihr | |
| Menschsein zu leben, als Mensch gut zu leben“, sagt sie. Und fügt hinzu: | |
| „Wir müssen uns darum kümmern, dass die Menschen sich selbst verstehen.“ | |
| 8 Nov 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Lea De Gregorio | |
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