# taz.de -- Der Hausbesuch: Er zieht sich nicht raus | |
> Früher war Markus Gleichmann ein Computernerd, heute sitzt er für die | |
> Linke im Thüringer Landtag. Er ist Politiker aus Heimatverbundenheit. | |
Bild: Das Leben auf dem Dorf habe ihn offener gemacht, sagt Gleichmann | |
Wer es ernst nimmt, für den geht es bei Heimatverbundenheit weniger um | |
Folklore, sondern um Verantwortung für Mensch, Umwelt und Gesellschaft. | |
Markus Gleichmann sieht das so. | |
Draußen: Das Dorf heißt Röttelmisch – und wer würde sich wundern, wenn der | |
Name eine Wortfindung von Astrid Lindgren wäre? 115 Menschen leben in dem | |
wie hingeworfenen Ort zwischen Hügeln, Feldern, Wald und Himmel, wenige | |
Kilometer von Kahla in Thüringen entfernt. Die Straßen zum Dorf sind | |
kurvig, mitunter ist in einer Kehre die Leuchtenburg hoch oben auf einem | |
der nicht allzu hohen Thüringer Berge zu sehen. Dann zeigen die | |
Einheimischen darauf und sagen: „Da oben die [1][Leuchtenburg].“ In | |
Thüringen werden Orte von Burgen bewacht. | |
Drinnen: Markus Gleichmann, seine Frau und die zwei Kinder wohnen in einer | |
ausgebauten Scheune zur Miete. Die Küche ist aufgeräumt. Da steht nichts, | |
was aus dem Rahmen fällt, nichts, was aufhält. Und da schwebt ja auch eine | |
Weggehensfrage über der Familie. Die nämlich, ob sie ins Elternhaus von ihr | |
oder ihm ziehen sollen. „Wenn es so weit ist“, sagt Gleichmann. Soll | |
heißen, wenn die Eltern nicht mehr alleine wohnen können. Nur wann und zu | |
welchen Eltern? Seinen? Ihren? „Wir weichen dem Thema aus.“ Sowieso gefalle | |
es ihnen in Röttelmisch. Da leben auch andere Paare mit Kindern im | |
Grundschulalter. Ein Glücksfall. Mehr will er über seine Familie nicht | |
sagen. | |
Der Berg: Soeben kommt Gleichmann von einer Führung über den wild | |
bewachsenen Walpersberg bei Kahla. Was dort idyllisch anmutet, hatten sich | |
die Nazis ab April 1944 noch von Zwangsarbeitern aushöhlen lassen. In die | |
27 Kilometer langen unterirdischen Schächte sollte die Produktion der Me | |
262, einer der Wunderwaffen der Nazis, verlagert werden – vor alliierten | |
Bombardements sicher. Oben auf dem Berg war die Startbahn. Mit Aufzügen | |
wurden die „Blitzbomber“ hochgezogen, 40 am Tag, so der Plan. Heute weiß | |
man von 30 insgesamt, die abhoben. Mehr als 15.000 Menschen wurden am Berg | |
geschunden; viele starben. Heute gehört das Gelände dem Geschichts- und | |
Forschungsverein Walpersberg. Gleichmann hat bei der Führung gezeigt, was | |
noch zu sehen ist: ein Berg mit Ruinen, wo fast jeder Stein Bauschutt ist | |
und an jedem Stückchen Bauschutt Blut klebt. | |
Was damals war: Lokalgeschichte erforschen ist Gleichmann wichtig. Im Fall | |
des Walpersbergs ist es mehr, es ist Antifaschismus. Denn in Kahla sind die | |
Rechten stark verwurzelt. Mehrere Häuser der desolaten Kleinstadt gehören | |
Wortführern aus der rechten Szene, der ehemaligen Wehrsportgruppe Hoffmann | |
etwa. Gleichmann kenne Leute, die antifaschistisch denken und sich, anders | |
als er, nachts nicht trauten, durch die Stadt zu joggen. | |
Von nichts gewusst: Wenn er die alten Leute gefragt habe, was vor 75 Jahren | |
los war, sagten manche: „Man hat den Walpersberg gerochen.“ Nichts gewusst | |
haben war ausgeschlossen. 5.000 zivile Angestellte arbeiteten neben den | |
Zwangsarbeitern am Berg. Die Lagerbaracken grenzten direkt an die | |
nächstgelegene Ortschaft. Heute ist dort eine Schrebergartensiedlung. | |
Der Großvater: Erst war Anfang 1945 die amerikanische Armee in der Gegend, | |
bevor sie an die Russen übergeben wurde. Ein paar Stunden dazwischen war | |
keine Siegermacht da. Sofort machten sich die Einheimischen auf, um aus dem | |
Walpersberg rauszuholen, was sie finden konnten. Auch Gleichmanns | |
Großvater, der eine Mühle besaß, eine Gastwirtschaft, viel Wald und Feld | |
(und schon unversehrt aus dem Krieg zurück war), schraubte gerade einen | |
Transformator ab, als die russische Armee ankam. Russische Soldaten halfen | |
ihm noch, das Gerät in sein Haus zu tragen, weil er ihnen Bier versprach. | |
Der Umzug: Gleichmann ist 1986 in Jena-Lobeda geboren. Als er Teenager war, | |
sind seine Eltern, Chemiker beide, ins Haus von Gleichmanns Großvater bei | |
Kahla gezogen. Von der Stadt aufs Land. Er schildert das nicht, als wäre es | |
sein Teenagertrauma. Klar, es mache einen Unterschied, ob man zwei Minuten | |
oder zwei Stunden zu den Freunden brauche, sagt er. „Und in der Stadt | |
hatten wir DSL, auf dem Land nicht, das war schon bitter.“ Aber vielleicht | |
habe ihn sogar erst der Umzug offen gemacht. | |
Der Nerd: Als Jugendlicher sei er strange gewesen. Hockte viel am Computer. | |
Er hatte schon gern Leute um sich, war aber genauso gern allein. Bis heute | |
sei das so. Dann geht er bergsteigen, allein, oder erkundet die Umgebung. | |
Und die Geschichte, die sich unter der Oberfläche versteckt. Im Wörtlichen | |
und im Übertragenen. | |
Die Domain: Auch in Sachen Computer wollte er alles verstehen. Er nahm PCs | |
auseinander und fummelte sich in die Technik ein. Dabei sicherte er sich | |
als Jugendlicher auch ein paar Domainnamen. Darunter diese: reimahg.de – | |
(Reimahg ist die Abkürzung für „Reichsmarschall-Hermann-Göring-Werk“, die | |
Betreibergesellschaft des unterirdischen Rüstungswerks im Walpersberg hieß | |
so). „Die werden schon auf mich zukommen“, habe er sich dabei gedacht. Die, | |
damit sind die Leute vom Geschichtsverein gemeint, die aufarbeiten, was | |
damals am Berg los war. Und so war es auch. „Komm, dann mache ich euch | |
gleich die Webseite“, habe er zu ihnen gesagt. Und als sie ihn bald danach | |
fragten, ob er nicht den Vorstand übernehmen wolle, sagt er zu. Mit 19 | |
Jahren. Er hätte es gemacht, weil ihn die Parallelen zu heute umtreiben. | |
„Wie war es möglich? Wie ist es wieder möglich?“ | |
Freundschaften: Den Geschichts- und Forschungsverein Walpersberg gibt es | |
seit 2005. Gleichmann forcierte, dass noch lebende ehemalige Zwangsarbeiter | |
oder ihre Angehörigen zu Gedenkfeiern eingeladen wurden. Viele kommen aus | |
Oberitalien, etwa aus dem Ort Castelnovo ne’ Monti. Freundschaften seien | |
entstanden, eine Städtepartnerschaft mit Kahla wird vom Verein initiiert. | |
Es beschäftigt ihn, dass sein Opa, der mit Rommel in Afrika war und später | |
gegen Partisanen in Italien kämpfte, möglicherweise genau in der Region | |
war. Gerade ist der Austausch ins Stocken geraten. Durch Corona sind zwei | |
Menschen aus der Partnerschaftsgruppe in Italien gestorben. | |
Nach dem Abitur: Von Beruf ist Gleichmann Fachinformatiker. „Ich hab nicht | |
studiert“, sagt er. Vielmehr hat er mit seinem älteren Bruder, der | |
mittlerweile promovierter Informatiker ist und in der Schweiz lebt, nach | |
dem Abitur eine Firma gegründet. „Das lief gut.“ In seiner eigenen Firma | |
hat er dann auch seine Ausbildung gemacht. Der Bruder erkundet die | |
Probleme, er versucht sie zu lösen. Das ergänze sich prima. | |
Gemeinwohl: Wer Probleme lösen will, und das nicht nur am Computer, sondern | |
auch in der dörflichen Gemeinschaft, der wird gebraucht. Hier kann man noch | |
politisch gestalten. Und Gleichmann sieht Bedarf, denn: „Im ländlichen Raum | |
kann man sich rechtem Denken nicht entziehen. Da muss man klar sein.“ Sich | |
mit rechten Denkern arrangieren, das sei ein No-go. Warum er so denkt und | |
nicht anders, diese Frage stellt sich für ihn nicht. „Ich bin klar | |
humanistisch, klar pazifistisch.“ | |
In die Politik rutschen: 2006, mit 20, ist er in die PDS eingetreten. Es | |
hätten auch die Grünen sein können, sagt er, aber wegen der Friedenspolitik | |
sah er bei der PDS größere Schnittmengen. Er schrieb eine Mail an die | |
Partei. „Komm vorbei“, war die Antwort. Schon bald arbeitete er | |
Kreistagsmitarbeitern zu und wurde 2014 selbst in den Kreistag gewählt. | |
Seit letztem Jahr ist er der Fraktionsvorsitzende einer Parteigemeinschaft | |
von Linken und Grünen dort. | |
Haltung: Gleichmann zieht sich nicht raus. Früher nicht, als er dem | |
Geschichtsverein vorstand oder die Frauenvolleyballmanschaft trainierte, | |
und heute nicht, im Kreistag oder im Förderverein der Friedensschule. „Ich | |
mag das nicht, wenn die Leute mir eine halbe Stunde erklären, wogegen sie | |
sind, und nicht, wie sie es machen wollen.“ Gleichmann ringt um Verstehen, | |
auch um sein eigenes. Dabei kommt er auf Überlegungen, die nicht so oft | |
ausgesprochen werden, etwa: Wer Flüchtlinge abwehre, wie die Rechten, wie | |
Seehofer, wie Salvini, wie Kurz, der wisse womöglich selbst, dass das nicht | |
richtig ist. „Ich muss glauben, dass die das nicht selbst glauben, sonst | |
verlässt mich der Glaube an das Gute im Menschen.“ | |
Im Landtag: Seit Ende letzten Jahres ist er auch Abgeordneter im | |
thüringischen Landtag. Sein Weg in die Politik ist rasant – er erklärt es | |
sich so: „Weil ich Dinge zusammendenke. Und weil ich Lösungen suche.“ | |
22 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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