Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Der Hausbesuch: Die Büglerin vom Bodensee
> Sie bügelt, sie tanzt, sie hat viel gelacht und blickt zurück auf ein
> Leben, in dem sie von Danzig bis an den Bodensee kam. Nur wenig bereut
> sie.
Bild: Brigitte Geike in ihrer Wohnung in Konstanz
Lachen kann die Welt verzaubern. Brigitte Geike weiß das. Einmal geschah,
weil sie lachte, ein Wunder.
Draußen: Es gibt ein Paradies, und das liegt am Bodensee. Genauer auf der
linken Rheinseite. Früher war es eine dörfliche Siedlung, heute gehört es
zu [1][Konstanz]. Seinen Namen erhielt der Stadtteil nach einem
Nonnenkloster. Brigitte Geike ist 84 und wohnt in Paradies. Sie ist keine
Nonne, sie ist Büglerin.
Drinnen: Fast 100 Bilder hängen in Geikes Wohnung. Sie zeigen ihre
Sehnsuchtsorte: die Ostseeküste auf Leinwand, einen großen Apfelbaum im
Holzrahmen, aus Kalendern ausgeschnittene Fotos mit Blumengärten, Wiesen,
Feldern und eine Menge Porträts von Katzen und Hunden dazu.
Menschenporträts gibt es keine. „Ich liebe die pure Natur“, sagt sie und
natürlich ihre graue Katze, die sich sofort streicheln lässt, um den
Fremden dann schnell zu beißen.
Sauberkeit: Selbst mit der Lupe scheint es unwahrscheinlich, irgendwo in
Geikes Wohnung ein Staubkorn zu finden. Die Falten der Vorhänge fallen
symmetrisch auf den Millimeter. Die Türen aller Zimmer sind offen. Wenn
Geike lächelt, verengen sich ihre Augen.
Bügeln: Sauberkeit sei ihre Leidenschaft, sagt sie. „Ich war in meinem
ganzen Leben eine Arbeiterin.“ Sie hat Wohnungen und Gebäude geputzt. Mit
16 arbeitete sie in einer Wäscherei. Sie bügelte Bettwäsche. Das tut sie
heute noch gern. Ihre alten Kunden bringen ihre Wäsche zu ihr nach Hause
zum Bügeln. Das Bügeln ist wie eine Meditation für sie, sagt sie. Dabei
hört sie kein Radio, keine Musik. Stundenlang steht sie in ihrem
Schlafzimmer vor dem Bügelbrett. „Während des Bügelns sinke ich häufig in
die Vergangenheit, dort, wo die schönsten Erinnerungen sind.“
Flucht: Sie wohnt am Bodensee und vermisst die Ostsee. Sie wurde in Danzig
geboren. [2][Als der Zweite Weltkrieg zu Ende geht], ist sie neun Jahre
alt. Mit ihrer Mutter und zwei Schwestern zieht sie bei ihren Großeltern
ein, im Fischerdorf Brösen, heute der Stadtbezirk Brzeźno von Danzig. Von
Mai bis November wohnen sie dort, bis die „Polen uns aus Danzig
rausschmissen“. Ihr Vater war damals noch nicht aus dem Krieg zurück.
„Einen Monat lang waren wir ständig auf der Flucht.“ Berlin, Bremen,
Schleswig und „was weiß ich, wo wir noch waren“. An eines erinnert sie
sich: „In westlichen Bahnhöfen gab es weißes Brot und warmen Kakao.“
Die schönste Zeit: Weihnachten 1945 kommen sie in Schleswig an. Sie seien
in einem alten Schulgebäude mit ganz vielen deutschen Flüchtlingen
untergebracht worden, erinnert sie sich. Dort blieben sie über den Winter.
Wie die Umstände dort waren? „Wir sind nicht gestorben.“ Sie seien in ein
Dorf gekommen, wo nur drei Bauernhäuser standen. Helligbek heißt der Ort.
Sie lacht, weil sie den Name der Ortschaft lustig fand. Dort habe sie bis
1951 ihre Schulzeit verbracht. „Das war die schönste Zeit meines Lebens.“
Da dort wenige Kinder waren, erzählt sie, saßen alle Schüler*innen der
unterschiedlichen Klassenstufen in einem Raum. „Ich fand das schön. Es war
wie in einer Großfamilie.“
Lachen: Sie war 11 oder 12, genau kann sie sich nicht erinnern, als sie mit
anderen Kindern draußen spielte „Ich habe laut gelacht, als ein fremder
Mann plötzlich näher kam. Es war mein Vater, der mich an meinem Lachen
erkannte“, sagt sie. Er war aus russischer Gefangenschaft entlassen und
wanderte als „Tippelbruder“ umher. „Er lief an uns vorbei und hörte mein
Lachen. Er fragte, ob da Kinder aus Danzig lebten“, sagt sie. „Es war wie
ein Wunder.“ Lachend erzählt sie das, ihre Augen sind dabei wieder ganz
eng. „Lachen bringt mein Herz zum Pumpen.“
Trennung: Mit 15 Jahren zieht sie nach Köln. Sie sollte Verkäuferin werden.
Das wollte der deutsche Staat, der Ausbildungsplätze für Flüchtlinge
förderte. Für Geike war es keine gute Idee, so früh von der Familie
getrennt zu werden. „Ich hatte Heimweh und wollte unbedingt zu meiner
Familie zurück, die nach Göggingen, einer Gemeinde in Baden-Württemberg,
umgesiedelt wurde.“ Sie bricht ihre Ausbildung ab und geht zu ihnen. Das
bereut sie bis heute nicht. Sie freut sich noch immer, dass sie damals eine
so mutige Entscheidung getroffen hat: „Alles zu beenden, das aufgezwungen
war.“
Schicksal: Mit 20 heiratet sie und zieht nach Konstanz. „Heute würde ich
das nicht wieder machen“, sagt sie. „Mit 20 Jahren hatte ich einen anderen
Kopf – dumm und naiv.“ Ihr Mann war ein Zimmermann aus Berlin und arbeitete
unter anderem in Konstanz. Er war viel unterwegs. Deswegen musste sie ihre
drei Kinder fast allein erziehen. Innerhalb von zehn Jahren zerbrach die
Ehe. „Die Liebe ging Jahr für Jahr weiter zurück“, sagt sie. Sie ließen
sich scheiden. „Meine Küken habe ich bei mir behalten.“ Ihre älteste
Tochter ist im Alter von 38 Jahren an Lungenkrebs gestorben. Die jüngere
Tochter wohnt zwei Straßen weiter. Doch sie haben nichts mehr miteinander
zu tun. „Ich kann damit leben“, sagt sie. „Weil ich weiß, dass ich trotz
mehrerer Versuche daran nichts ändern kann.“ Ihre Liebe schenkt sie ihrem
Sohn und dem Enkelkind, die in der Nähe von Konstanz wohnen.
Tierversuch: Mit 43 arbeitet sie in einem Pharmaunternehmen in Singen.
Heute gehört es zu [3][Takeda], einem der größten Medizinunternehmen der
Welt. Sie fütterte die Tiere, spielte mit ihnen und brachte sie zum Labor
für die Tierversuche. Sie erinnert sich: „Hunde durften nach dem Versuch
länger leben, Katzen waren in einem Tag weg.“ Wie wirkte sich diese Arbeit
auf sie aus? „Am Anfang hat es mir nichts ausgemacht, denn ich sah die
Tiere ja nicht leiden“, sagt sie. „Es war mein Job. Hätte ich es nicht
gemacht, hätte es jemand anderes gemacht.“ Und doch änderte sich etwas mit
der Zeit. Es begann, ihr weh zu tun und sie bat ihre Kolleg*innen, die
Tiere bis zur Labortüre zu bringen. 20 Jahre lang machte sie den Job, bis
sie in Rente ging.
Zufriedenheit: Sie ist mit ihrem Leben zufrieden, weil „ich mir die
Zufriedenheit selbst aufgebaut habe“, sagt sie. Meckern sei nie ihre Sache
gewesen. Sie arbeitet und findet Spaß am Leben. „In meinem Alter liegen
viele im Pflegeheim oder auf dem Friedhof“, sagt sie. Sie freue sich, dass
sie den Alltag weiter selbständig bewerkstellige. Und noch mehr: Sie fährt
Auto, macht Sport, geht tanzen, arbeitet im Garten vor ihrem Wohngebäude,
führt Hunde der Nachbarn aus, liest viele Thriller, bügelt und wählte immer
CDU, weil sie gerne Merkel als Kanzlerin behalten wollte. „Bevor die etwas
sagt, überlegt sie das ganz genau“, sagt Geike und meint: „Merkel hat uns
in all den Jahren gut über die Runden gebracht.“
Tanzen: Seit 13 Jahren besucht sie jede Woche einen Tanzkurs, von
argentinischen Tango bis zu griechischen Sirtaki. 21 Frauen und drei Männer
sind in der Gruppe. Gibt es einen Kampf um die Männer als Tanzpartner? Die
Frage bringt sie zum Lachen. Von drei Männern habe sie zwei an ihrer Seite.
„Männer sind Tanzmuffel“, sagt sie „Sie wollen Frauen im Arm haben und s…
führen. Wir tanzen eher Kreistänze, was Männer nicht so gerne mögen“, sagt
sie. Nun schränkt die [4][Coronapandemie] das Tanzvergnügen ein. Doch sie
hat eine Lösung gefunden. Sie macht das Putzen zum Tanz.
13 Dec 2020
## LINKS
[1] /Konstanz/!t5021216
[2] /Schwerpunkt-Tag-der-Befreiung/!t5464156
[3] https://www.takeda.com/de-de/
[4] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746
## AUTOREN
Tigran Petrosyan
## TAGS
Der Hausbesuch
Hoffnung
Trauer
Konstanz
Bodensee
Petition der Woche
Schwerpunkt Landtagswahl in Baden-Württemberg
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
Thüringer Landtag
## ARTIKEL ZUM THEMA
Petition für Rettungshelikopter: Mit 660 PS zur Unfallstelle
Der am Klinikum Friedrichshafen stationierte Rettungshubschrauber
„Christoph 45“ soll verlegt werden. Eine Petition will das verhindern.
Abschied vom Bodensee: Warten auf das Geröll
Ganz unten in Baden-Württemberg liegt der Bodensee. Noch. Warum es gut ist,
dass Deutschlands größter See verschwindet.
Der Hausbesuch: Helfen und helfen lassen
Goldi war 17 Jahre lang obdachlos. Zurzeit ist er in der Wohnung eines
Bekannten untergekommen. Und sorgt sich um andere auf der Straße.
Der Hausbesuch: Im Haus der Liebe und der Dinge
Sie sammelt Objekte, die für große und kleine Lieben stehen, andauernde und
verflossene. Zu Besuch bei Luise Loué im Museum der Liebe am Ammersee.
Der Hausbesuch: Immer weiter gehen
Claudia Bernardoni arbeitet seit 30 Jahren mit geflüchteten Menschen. Sie
ist eins der Gesichter des heutigen Tag des Ehrenamts.
Der Hausbesuch: Die Schnauze voll von Rosa
Suli Puschban ist Erzieherin an einer Berliner Schule. Als Kindermusikerin
ist sie ein alternatives Rollenvorbild für die kommende Generation.
Der Hausbesuch: Er zieht sich nicht raus
Früher war Markus Gleichmann ein Computernerd, heute sitzt er für die Linke
im Thüringer Landtag. Er ist Politiker aus Heimatverbundenheit.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.