| # taz.de -- Der Hausbesuch: „Die, die Hochdeutsch schwätzt“ | |
| > Physiotherapeutin Angelika Derst zog als Außenstehende in einen kleinen | |
| > Ort im Schwäbischen, der voller alter Geschichten ist. Und ist | |
| > dageblieben. | |
| Bild: Die Physiotherapeutin Angelika Derst im Garten ihrer Doppelhaushälfte in… | |
| Zuerst war da die Doppelhaushälfte, denn die kann man im Zweifel schnell | |
| wieder verkaufen. Jetzt hat Angelika Derst gemeinsam mit ihrem Mann eine | |
| eigene Physiotherapie-Praxis im Nachbarort. | |
| Draußen: Im Vorgarten eine wilde Blumenwiese mit Kornblumen. „Wir wollten | |
| in einer ruhigen Straße wohnen“, sagt die 54-Jährige. Vor 23 Jahren ist sie | |
| gemeinsam mit ihrem Mann und ihrer ersten Tochter ins | |
| baden-württembergische [1][Bargau] gezogen. Seit zweieinhalb Jahren gibt es | |
| eine Ortsumfahrung, das heißt kein Durchgangsverkehr mehr. Jetzt ist es | |
| auch insgesamt ruhiger für die rund 2.800 Einwohner im Ort. | |
| Drinnen: Da ist viel Holz – die Küchenschränke, die Möbel, auch die | |
| Eckbank. Daneben sind Zeitungen aufgehäuft, an den Wänden viele | |
| Familienfotos. In der Ecke döst Sally und schnauft manchmal laut, die | |
| Hündin ist schon alt. „Machtzentrale“ sagt ein Schild, das über ihr an der | |
| Heizung hängt. Morgens geht Derst mit ihr raus, danach frühstückt sie am | |
| liebsten auf der kleinen Terrasse im Vorgarten. | |
| Das tut sie: Ihr Mann und sie arbeiten beide in der Physiotherapie; während | |
| der Ausbildung haben sie sich kennengelernt. Weil sie in der Praxis eines | |
| Bekannten, ganz in der Nähe von Bargau, arbeiten wollten, sind sie dorthin | |
| gezogen. Die dreieinhalb Kilometer zu ihrer jetzigen, eigenen Praxis fährt | |
| sie mit dem Fahrrad. | |
| Wieder loswerden: Sie haben eine Doppelhaushälfte gekauft. Denn „die lässt | |
| sich leicht wieder verkaufen“. Das war die Bedingung, als sie sich eine | |
| neue Bleibe gesucht haben – das Leicht-wieder-loswerden-Können. Denn was, | |
| wenn es in dem Ort nicht gefällt? Vor 23 Jahren kannten sie niemanden in | |
| Bargau. | |
| Ankommen: Am Tag des Einzugs, im März 1997, hat sich ein Nachbar direkt zu | |
| den Umziehenden in den Garten gesetzt. Sie war hochschwanger mit dem | |
| zweiten Kind und musste sich im oberen Stock hinlegen. „Ich habe dann nur | |
| das breiteste Schwäbisch durchs offene Fenster gehört.“ Da musste sie | |
| schmunzeln, das tut sie jetzt auch. | |
| Richtig ankommen: So war da dann zunächst die Mühe, den schwäbischen | |
| Dialekt zu verstehen. „Das war nicht ganz einfach.“ Und den Bezug zu den | |
| anderen, den Bargauer:innen, und den vielen alten Geschichten der Menschen | |
| im Ort hatten sie auch nicht. Dazu kam: Sie war „wüstgläubig“, wie im | |
| katholisch geprägten Bargau Evangelische bezeichnet werden. Außerdem noch | |
| „neigschmeckt“, denn sie war nicht von hier, sondern eine aus dem Norden. | |
| „Aber das war nicht böse gemeint“, das ist Angelika Derst wichtig. Das | |
| waren einfach so Situationen: Sie rief an, aber nur das Kind war am | |
| Apparat. Das richtete dann der Mutter aus: „Da hat die angerufen, die | |
| Hochdeutsch schwätzt.“ | |
| Das Schwäbische: Bei Derst selbst kommt das Schwäbische jetzt auch ein | |
| bisschen durch. Ihre drei Kinder haben einfach ins Schwäbische gefunden. Da | |
| kamen einmal Freunde aus dem Ort in Norddeutschland, in dem Derst | |
| aufgewachsen ist, zu Besuch und deren Kinder meinten dann über ihre: „Wir | |
| würden ja mit ihnen spielen, aber wir verstehen sie nicht.“ | |
| Auf dich hat niemand gewartet: Jetzt sind sie mit vielen „Tiefverwurzelten“ | |
| befreundet. Solche, von denen sie merkt, „dass sie untereinander sehr | |
| vertraut sind“. Denn die haben oft schon die Schulzeit gemeinsam verbracht, | |
| deren Eltern kennen sich bereits, die Kinder wieder. Vieles läuft auch über | |
| das Vereinsgeschehen im Ort – „die Eltern waren im Verein, die haben das an | |
| die Kinder weitergegeben, die wieder an ihre Kinder“. Und ihnen war klar: | |
| „Die Leute hier haben nicht darauf gewartet, dass du zugezogen kommst.“ | |
| Deshalb haben sie von Anfang an bewusst gesagt: „Wir möchten uns | |
| einbringen.“ Zum Beispiel, indem sie das Amt als Elternsprecher:in | |
| übernommen hat. Sie findet auch: „Du kannst nicht immer sagen: Macht ihr | |
| mal, die anderen. Da muss man dann auch selbst machen.“ | |
| Vor derselben Tür: Dass sie Kinder bekamen, hat das Ankommen im Ort | |
| erleichtert. Das fing in der Krabbelgruppe an und dann im Kindergarten: „Da | |
| warten dann alle vor derselben Tür, bis die Kinder rauskommen.“ Und sie | |
| waren in den Sportvereinen, die Töchter haben geturnt, der Sohn Fußball und | |
| alle drei Handball gespielt. Ihr Mann betreut als Physiotherapeut die | |
| Handballmannschaft. Vereinsleben ist wichtig in Bargau. | |
| Langfristig: In der Doppelhaushälfte wohnen sie jetzt schon lange. | |
| Schließlich haben sie eine Praxis im Nachbarort übernommen. „Dadurch wurde | |
| es dann richtig definitiv und langfristig.“ Vor einiger Zeit erst ist das | |
| ältere Ehepaar von gegenüber, im Abstand von wenigen Monaten nur, | |
| gestorben. „Sie waren wie Oma und Opa für unsere Kinder.“ Wenn sie jetzt | |
| rüberschaut, ist da niemand mehr, der morgens die Rollläden hochzieht, sie | |
| abends runterlässt. Dieses Auf und Ab der Rollläden, das fehlt ihr. | |
| Die Entscheidung: Aufgewachsen ist Derst auch in einer Doppelhaushälfte und | |
| mit einem Hund, als Tochter eines Arztes. Der war selbst krank – seine | |
| Arbeit konnte er machen, aber zu Hause war er wenig präsent. Bei ihr war da | |
| immer das Gefühl: „Wenn ich meine Sachen gut mache, dann ist es in | |
| Ordnung.“ Für Medizin hat sie sich schon früh interessiert, während der | |
| Schulzeit hat sie Praktika in einer Tierarztpraxis und im Krankenhaus | |
| gemacht. Aber dann hat sie sich doch für die Physiotherapie entschieden. | |
| Weil das Ende des langen Medizinstudiums in die Zeit gefallen wäre, in der | |
| sie Kinder bekommen wollte. „Dann als Frau wieder zurückzukommen, das ist | |
| in dem Beruf nicht einfach.“ Und in der Physiotherapie „ist das | |
| Medizinische auch mit drin“. | |
| Mittagessen: Weil sie sich so entschieden hat, konnte immer jemand für die | |
| Kinder zu Hause sein – sie und ihr Mann haben sich abgewechselt. Das | |
| Mittagessen wurde zum Treffpunkt für die ganze Familie. Das ist den | |
| Abläufen in der Praxis geschuldet: Abends geht es oft lang, um Termine für | |
| die Berufstätigen anzubieten. Die Kinder waren auf dem Gymnasium im | |
| Nachbarort: „Da kam der Bus um 13.15 Uhr zurück.“ Das war dann die | |
| Mittagessenzeit. Am Essentisch wird dann nicht immer, nicht nur, „aber | |
| schon manchmal“ über Physiotherapie gesprochen. | |
| Das denkt sie: „So schlecht haben wir das nicht vorgelebt“, denkt sie von | |
| sich. Ihre älteste Tochter hat sich auch für die Physiotherapie | |
| entschieden. „Aber mach das bitte mit einem höherwertigen Abschluss, im | |
| Ausland“, haben die Eltern zu ihr gesagt. Sie hat in den Niederlanden | |
| studiert. Denn in vielen anderen europäischen Ländern ist die | |
| Physiotherapie ein Studium, in Deutschland meist eine Ausbildung. Das heißt | |
| auch, dass Physiotherapeut:innen in anderen Ländern oft weiterreichende | |
| Befugnisse haben. In Deutschland arbeiten sie auf Weisung eine:r Ärzt:in. | |
| „Es ist ein medizinischer Hilfsberuf.“ Das Studium für die Physiotherapie | |
| findet sie sinnvoll. Das merkt sie insbesondere, wenn sie ihre Ausbildung | |
| mit dem Studium ihrer Tochter vergleicht. Und dann ist da natürlich das | |
| Gehalt: „Als angestellte Physiotherapeutin in Deutschland kannst du keine | |
| Familie ernähren.“ | |
| Der Beruf, das Leben: Für sie ist wichtig, „dass man nicht nur nach | |
| Freizeit strebt, sondern den Beruf auch wirklich schätzt“. Das ist bei ihr | |
| so. Ihr mache das Physiotherapeutin-Sein nach wie vor Freude. Weil das so | |
| ist, stört sie die Frage von Freund:innen: „Kannst du mich heute Abend noch | |
| kurz tapen?“ auch nicht – das macht sie dann gern. Und als | |
| Physiotherapeutin hat sie immer zu tun, denn „Leute haben immer | |
| Rückenschmerzen“. | |
| Halb voll: Eindrücklich findet sie das „halb volle statt halb leere Glas“. | |
| Aber manchmal liege sie auch im Bett und mache sich Sorgen: „Klar, dann ist | |
| das Glas auch mal eher halb leer.“ | |
| Wiedergewonnene Freiheit: Jetzt sind die Kinder raus aus Bargau, aber sie | |
| haben alle noch ihre Zimmer im oberen Stock. Im letzten Jahr war sie mit | |
| ihrem Mann für drei Wochen in Costa Rica, Fotos davon kleben am | |
| Kühlschrank. „Das ist die Freiheit, die man wiederbekommt.“ Und das Gute, | |
| findet sie, wenn die Kinder weggezogen sind, nach Heidelberg, in die | |
| Niederlande, „dann kannst du sie da auch besuchen gehen“. | |
| 1 Nov 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Bargau | |
| ## AUTOREN | |
| Lisa Becke | |
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