# taz.de -- Der Hausbesuch: Noch mal neu gestartet | |
> Farina Schurzfeld war mit Anfang zwanzig Chefin einer erfolgreichen | |
> Firma. Die Krebserkrankung ihrer Mutter zeigte ihr: das ist nicht alles. | |
Bild: Erst Australien, dann USA, dann Berlin: Farina Schurzfeld, Entwicklerin d… | |
Als bei ihrer Mutter Krebs diagnostiziert wurde, suchte Farina Schurzfeld | |
einen Therapieplatz für sie. Es schien unmöglich: überall monatelange | |
Wartezeiten. Also rief sie eine App ins Leben, mit der man diese Wartezeit | |
überbrücken kann. | |
Draußen: Farina Schurzfeld lebt in Prenzlauer Berg in Berlin. Gegenüber | |
ihrer Wohnung liegt eine Eisdiele, eine Bäckerei und eine „Popkornditorei“. | |
Vor der Wohnungstür steht eine Kiste mit Kinderklamotten zum Verschenken. | |
Wer an den goldenen Klingelschildern vorbeigeht und durch das Vorderhaus | |
läuft, gelangt in einen Innenhof voller Fahrräder. | |
Garten: Der Garten vor ihrem Haus ist nur von ihrer Wohnung zugänglich. Zum | |
Interview setzt sie sich auf einen Stuhl, legt lässig ihre Beine hoch. Auf | |
dem Tisch vor ihr steht ein Blumentopf, daneben liegt eine Schachtel | |
Zigarillos. Während des Interviews trinkt sie Wasser. Über den Pflanzen | |
fliegen Spatzen, umkreisen sich. Morgens um halb fünf sind die Vögel oft so | |
laut, dass sie davon geweckt wird, erzählt sie. | |
Drinnen: Im Flur steht ein Eimer voller Kleingeld für den nächsten Urlaub, | |
an einer Wand lehnt ein Longboard. Farina Schurzfelds Wohnung liegt im | |
Erdgeschoss, es dringt kaum Licht hinein. Egal zu welcher Jahreszeit, | |
tagsüber brennt immer das Licht. | |
Immer geradeaus: Schurzfeld hat BWL studiert. Ein Karrierestudium. Genauso | |
hat sie sich das vorgestellt. Nur infrage gestellt hat sie es nicht. Mit 22 | |
ging sie nach Australien, baute dort das Vertriebsteam von Groupon auf, | |
einer Homepage mit Rabatt-Gutscheinen. Dann gründete sie eine | |
Minijob-Plattform, mit der sie in den USA durchstarten wollte. „In | |
Australien habe ich mich totgearbeitet. Auch, um meine Führungsstärke als | |
junge Frau Anfang zwanzig unter Beweis zu stellen“, sagt Schurzfeld und | |
fährt sich mit rosa lackierten Fingernägeln durchs Haar: „Ich war krass | |
überfordert.“ | |
Das Ego: In Australien war sie die Chefin von 60 Mitarbeiter:innen. „Das | |
war natürlich cool fürs Ego.“ Fragen an die Unternehmenskultur habe sie | |
damals wenige gestellt. Ihr ganzes Selbstwertgefühl habe sie aus dem Job | |
gezogen. „Einmal war der Mann von meiner Ma zu Besuch. Ich habe ihn total | |
gerne, hatte aber keine Zeit für ihn.“ Auch Freund:innen traf sie nicht | |
mehr. Ihr Leben bestand aus Arbeit, „nur, um von anderen bewundert zu | |
werden“. | |
Und weiter: Sie wechselte zum Start-up AirTasker, einer Online-Börse, über | |
die man Dienstleistungen einkaufen kann. Aus Australien ging sie in die | |
USA. „Da habe ich gemerkt: Das ist mir zu krass. Es hat auch nicht | |
funktioniert, das Start-up war nicht reif für den internationalen Markt.“ | |
Sie merkte, dass sie im Luftschloss lebte. Sie beschloss, nach Deutschland | |
zurückzuziehen. Ihre Mutter besuchte sie in den USA, dann flogen sie | |
gemeinsam zurück. „Ich zog erst mal zu meiner Mutter. Nach Detmold. Mit | |
27.“ | |
Die Mutter: Schurzfeld hatte ein gutes Verhältnis zu ihrer Mutter. „Noch | |
mal zurück zu ihr zu ziehen war super schön, es war sehr vertraut.“ Sie | |
erinnert sich an ein Kindheitserlebnis: „Ich war vielleicht sieben und | |
hatte Lust auf Eis. Die nächste Eisdiele war vier Kilometer entfernt. Meine | |
Ma hat gesagt: ‚Mach doch.‘ Ich bin losgefahren. Mein Vater ist völlig | |
ausgetickt, er wollte die Polizei rufen. Ich habe mein Eis gekauft, | |
gegessen und bin zurückgefahren.“ | |
Die Krankheit: Vor fünf Jahren, kurz nachdem Schurzfeld zurück in | |
Deutschland war, bekam die Mutter die Diagnose Krebs. Ihr Mutter sei ein | |
liebevoller Mensch gewesen. „Für sie war das sehr hart. Uns war klar: sie | |
wird nicht mehr so lange leben.“ Zunächst sei ihre Mutter in der | |
psychologischen Onkologie gewesen, der Betreuung von Krebspatient:innen. | |
„Das fand sie klasse. Dann ist sie rausgekommen, und wir machten uns auf | |
die Suche nach einem Therapieplatz. Die Wartezeit betrug drei Monate. | |
Überall. Wir haben uns die Finger wund telefoniert. Ich fand es krass, dass | |
man mit dieser schwerwiegenden Diagnose komplett alleine ist.“ | |
Die Erkenntnis: In Deutschland ist es nichts Außergewöhnliches, drei Monate | |
auf einen Therapieplatz zu warten. „Ich wusste das nicht. Woher sollte ich? | |
Ich habe BWL studiert. Themen rund um Psychologie fand ich spannend, aber | |
das war weit weg von meinem Studium.“ | |
Etwas machen: „Wenn du weißt, deine Mutter kann, wenn es gut geht, noch ein | |
Jahr leben und du bist Einzelkind, dann...“ Sie beendet den Satz nicht. „Du | |
weißt gar nicht, was du machen sollst.“ Sie habe die Verantwortung gespürt. | |
In ihrer Hilflosigkeit sucht Schurzfeld nach Lösungen im Internet, entdeckt | |
Start-ups, die digitale Therapien machen. Ihrer Mutter läuft die Zeit | |
davon. Sie stirbt kurz darauf. Einige Monate später fasst die Tochter den | |
Entschluss, ein neues Unternehmen zu gründen. | |
Das dritte Start-up: Selfapy, das Start-up, das sie gemeinsam mit Nora Blum | |
und Kati Bermbach 2016 gründete, will Menschen helfen, die Wartezeit zum | |
Therapieplatz zu überbrücken. Es soll Menschen erste Anstöße für die Arbeit | |
an sich selbst geben. Das Programm basiert auf Ansätzen der kognitiven | |
Verhaltenstherapie. Nach einem ersten Telefongespräch läuft das meiste bei | |
Selfapy online: Die App stellt Informationen und Übungen zur Verfügung, | |
Nutzer und Nutzerinnen beantworten Fragen zur eigenen Stimmung, die | |
automatisiert ausgewertet werden. Dazu chatten sie mit psychologisch | |
geschulten Personen. Es kann danach zu wöchentlichen Telefongesprächen | |
kommen – doch werden diese meist geführt von Menschen, die keine | |
abgeschlossene Therapieausbildung haben. Das Programm wird teurer, je mehr | |
man telefonieren möchte. Kritiker:innen betonen, dass solche Apps keine | |
Therapie ersetzen können. | |
Leichtester Fall: „Nach dem Tod meiner Ma habe ich selbst eine Therapie | |
gemacht. Der Therapeut hat mich nach vier Sitzungen gehen lassen“, erzählt | |
Schurzfeld. „Er sagte zu mir: ‚Sie sind mein leichtester Fall.‘“ Woran … | |
lag? „Ich habe viel gelogen. Ich wollte funktionieren und habe meine | |
Gefühle nicht gezeigt.“ | |
Angst: Vor zwei Jahren suchte sie sich anderweitig psychische | |
Unterstützung. Ein Coach hilft ihr seit zwei Jahren, mit ihren eigenen | |
Ängsten umzugehen. „Ich kann das nur jedem empfehlen. Es hilft mir sehr. | |
Natürlich sind meine Ängste jetzt nicht weg. Aber ich kann mit ihnen | |
umgehen“, sagt sie. Mittlerweile habe sie keine Angst mehr vor dem | |
Alleinsein. „Ich suche mir nicht mehr krampfhaft einen neuen Freund. Ich | |
kann auch manchmal zwei Stunden alleine auf dem Sofa sitzen.“ Das sei für | |
sie ein Fortschritt. Vergangenen Juli hielt Schurzfeld einen Tedx-Talk, | |
eine Rede, die bei einer der weltweit jährlich stattfindenden | |
Ideenkonferenzen „Tedx“ gehalten wurde und andere Menschen inspirieren | |
soll. Sie sprach auf dem Podium über ihre Angst. Darüber, dass man | |
bestehende Muster immer wieder hinterfragen solle. Ob sie auch heute noch | |
Angst hat? „Ich glaube, zu sagen, dass man vor Dingen Angst hat, ist eine | |
Stärke. Klar habe ich Angst. Ich habe Angst, dass Menschen wieder weggehen. | |
Riesige Angst vor Verlust.“ Aber es sei eine Sache, das zu verstehen, eine | |
andere sei es, damit umzugehen. „Das ist ein Prozess.“ | |
Arbeit heute: „Ich glaube nicht daran, dass es etwas bringt, sich | |
abzurackern. In der Woche arbeite ich vier Tage, jeweils sechs Stunden. | |
Dabei gebe ich Vollgas.“ Die Identifikation mit ihrem Job sei jetzt nicht | |
mehr so groß wie früher, weil auch anderes in ihrem Leben Platz fände. | |
Arbeit sei nicht mehr ihr komplettes Leben. „Wichtiger ist mir ein | |
liebevolles Umfeld.“ | |
Pandas: In der Küche von Schurzfeld hängt ein Panda-Kalender. Für die | |
Gründerin ist der Panda zu einem Symbol geworden. „Wenn ich bei mir selbst | |
bin, etwas nur für mich mache, dann ist das ein Panda-Moment.“ Warum gerade | |
ein Panda? Das sei Zufall gewesen: Mit einem Freund saß sie in der Sauna. | |
Ihr sei dabei die Wimperntusche unter den Augen verlaufen. „‚Oh mein Gott, | |
du siehst aus wie ein Panda‘, hat mein Freund gesagt.“ Die Sauna bedeutet | |
für Schurzfeld Glück: „Es ist mein Happy Space. Dieses Gefühl in den Alltag | |
zu bringen, das war der Aufhänger für den Panda als Symbol in meinem | |
Leben.“ | |
Mach mal: Oft sagt Schurzfeld „Mach mal!“ zu anderen. Dieses „Mach mal!“ | |
passt zu Schurzfeld: „Wenn mich jemand fragt, ob ich Lust habe zu lernen, | |
wie man einen Elefanten reitet, würde ich sagen: ‚Let’s do it!‘ Ich wür… | |
alles immer erst ausprobieren, anstatt zu sagen: ‚Äh, finde ich doof‘“, | |
sagt sie. | |
10 Oct 2020 | |
## AUTOREN | |
Nicole Opitz | |
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