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# taz.de -- Der Hausbesuch: Frei und doch vereint
> Die Zwillingsschwestern Traude und Iris Bührmann reisen gemeinsam durch
> dieses Leben. Schreibend, liebend und voller Kraft.
Bild: Traude Bührmann (rechts) und ihre Zwillingsschwester Iris auf dem Balkon…
Zwilling sein, ist etwas Besonderes. „Man ist nie verlassen“, sagt Traude
Bührmann. Ihre Schwester Iris nickt.
Draußen: Wohnblocks, gebaut in den 1950er Jahren in Berlin-Schöneberg
unweit des Viktoria-Luise-Platzes. Dort wirft ein Brunnen eine riesige
Fontäne in die Höhe. Die uniformen, fast 70 Jahre alten Häuser haben
inzwischen selbst Patina und so bescheidene Eleganz.
Drinnen: Arbeiten, Schlafen, Essen, Reden – alle Zimmer sind für alles da.
Bücher, Bilder, Erinnerungsstücke von Reisen sind überall. Traude Bührmann
und ihre Schwester sitzen mit Abstand an zwei Tischen wegen des Virus. Aber
angesichts lebenslanger Zwillingszugewandtheit schmilzt Distanz schnell.
Der Anfang: Sie sind 1942 in Essen geboren. Mitten im Krieg. „Traude ist
zehn Minuten älter“, erzählt Iris Bührmann. Das ist Zwillingen wichtig: die
Ältere sein, die Jüngere sein. Niemand hatte mit dem zweiten Kind
gerechnet. Der Arzt und die Hebamme hatten den Raum verlassen; da ging es
wieder los. Die Mutter sei fast gestorben. „Einen Namen für mich gab es
auch nicht“, sagt Iris.
Zu zweit sein: Zweieiig seien sie. Aber aufgewachsen als Einheit. „Die
Mutter hat uns in gleiche Klamotten gesteckt.“ Selbst den jüngeren Bruder
habe sie so angezogen, „als wären wir Drillinge“. Die Mutter war streng,
kam aus bäuerlichem Milieu. „Ihr könnt das nicht“, soll sie oft zu den
Mädchen gesagt haben. Der Vater starb früh.
Sich haben: „Wir hatten lange einen gemeinsamen Lebensweg“, sagt Iris
Bührmann. Erst machten sie Mittlere Reife, dann beide eine Lehre in
Industriebetrieben in Bochum. Wenn der VfL Bochum gewonnen hatte, wurden
Kisten mit Bier angeschleppt für die Männer; die Frauen tranken Eckes
Edelkirsch. „Und, keine Einzelheiten, wie die uns behandelt haben“, sagt
Traude. „Das wurde uns schnell zu eng“, sagt ihre Schwester.
Weiter gehen: Abends lernten sie Englisch an der Volkshochschule. Und 1960
gingen sie als Au-pairs nach England. Iris arbeitete bei einem Naturfreak,
der mit Schirm und Melone ins Büro kam. Im Winter holte sie sich
Frostbeulen, weil das Haus nicht geheizt wurde. Dass sie Deutsche waren,
war kein Thema, obwohl der Krieg noch nicht lange vorbei war. Anschließend
waren sie ein Jahr lang Au-pairs in Paris. Sie saßen an der Seine und die
Welt sei so voller Schönheit gewesen. „So fing das Reisen an“, sagt Traude
Bührmann.
Bei der Lufthansa: „Wir wollten auf keinen Fall zurück ins Büro“, sagt
Iris. Deshalb bewarben sie sich bei der Lufthansa und bekamen Jobs beim
Bodenpersonal am Flughafen in Düsseldorf. Sie tauschten Schichten, legten
Tage zusammen, damit sie, das war ihr Begehren, länger am Stück reisen
konnten. Für sie waren Flugtickets wegen ihres Jobs billig. Ihre erste
Reise ging 1966 nach Kreta. Sie wollten die [1][Höhlen von Matala]
besichtigen, meinten, das sei ein historisches Denkmal. Aber die Höhlen
waren von Hippies bewohnt. „Und ach du meine Güte, wir kamen mit unseren
Lufthansa-Taschen“, sagt Traude Bührmann. Ihre erste Fernreise ging nach
Bangkok, Hongkong und Bali. Dort trampten sie über die Insel. „Was für eine
schöne Landschaft“, sagt Traude. „Was für schöne Menschen“, sagt ihre
Schwester.
Eine geht voraus: Während Traude, die zehn Minuten Ältere, weiter bei der
Lufthansa blieb, ging Iris Bührmann 1968 mit dem Deutschen
Entwicklungsdienst nach Nepal. Die Erfahrung des Fremden, des anderen, und
der Gedanke, dass sie die Fremde im anderen sein könnte, lockten sie. Sie
fing im Büro des Entwicklungsdiensts an. „Wir waren alle gleich, alle haben
500 Mark verdient.“ Es sei die Zeit gewesen, als Hierarchien infrage
gestellt wurden. Es sei der Anfang ihrer Politisierung gewesen. Iris blieb
zwei Jahre in Nepal, während Traude weiter am Flughafen arbeitete. Bald
fragte die sich: „Ach nee, das soll alles gewesen sein im Leben?“
Journalismus: Traude schrieb sich für einen Fernkurs in Journalismus ein,
kündigte, besucht ihre Schwester in Nepal, hielt sich mit journalistischen
Arbeiten über Wasser und blieb. Iris fuhr 1971 mit einem Freund im Minibus
über Land zurück, durch Indien, Afghanistan, Pakistan. Zwei Jahre später
tat Traude es ihrer Schwester gleich. „Wir haben Landschaften gesehen, die
heute zerstört sind“, sagt sie. Auf Fotos von Traude Bührmanns Reisen fällt
auf, dass sie vor allem Frauen ins Bild setzte.
Bildung: Zurück in Deutschland holte Iris das Abitur nach und begann 1973
ein Germanistik- und Amerikanistikstudium in Berlin. Bei [2][Wolfgang Fritz
Haug] belegte sie die legendären Kapitalkurse. „Da habe ich am meisten
gelernt.“ Auch Traude ging in Berlin zur Uni, mit Begabtenabitur. Ihr Fach:
Soziologie. Studieren allerdings war in der Zeit mehr: Die
[3][Aufbruchsbewegungen] nahmen Fahrt auf. Beide waren begeistert von den
lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen, Traude auch vom Feminismus und
dem Kampf der Homosexuellen.
Und weiter: Während des Studiums ging Iris Bührmann in die USA,
unterrichtete deutsche Grammatik. Ihre zehn Minuten ältere Schwester reiste
wieder, Afrika, Lateinamerika. Sie schrieb einen Artikel über die erste
Frauendemonstration in Ecuador, schickte ihn an die feministische
Zeitschrift Courage, die 1976 gegründet worden war, und wurde gefragt, ob
sie mitmachen möchte. Sie wollte.
Liebe: Für die Courage schrieb Traude Bührmann auch über die in
Berlin-Moabit im Hochsicherheitstrakt einsitzenden Frauen des 2. Juni.
„Besuch mich doch, ich bin immer zu Hause“, sagt eine zu ihr. Traude tat
es, alle zwei Wochen eine halbe Stunde. Die beiden verliebten sich. In
Bührmanns Buch „Flüge über Moabiter Mauern“, geht es um diese Liebe, die
noch eine Weile andauerte, als die Geliebte wieder frei war. Ihre Schwester
sah das mit der Liebe anders. „Ich habe mich immer mehr so als
alleinstehende Frau begriffen“, sagt sie.
Berlin: 1977 kam Iris Bührmann aus den USA zurück und wurde Lehrerin am
Charlotte-Wolff-Kolleg, einer Schule für Erwachsene. Traude schrieb,
engagierte sich in der Frauen- und Lesbenbewegung in Berlin, organisierte
Kulturräume, Projekte, Ausstellungen, Literaturevents. Und dann lernte sie
auf der feministischen Buchmesse in Montreal 1988 Suzette Robichon kennen,
ihre Lebensgefährtin. Sie wohnte in Paris. Das beflügelte.
Was Neues machen: „Ach, jetzt muss ich mich mal verändern“, sagte Traude,
als sie 50 wurde. Sie fragte eine Freundin, die in der Provence lebt: „Kann
ich kommen?“ Sie konnte. Fortan pendelte sie zwischen Paris und dem
französischen Süden. Immer schreibend, übersetzend, Ideen entwickelnd. Und
oft prekär. „Ich hatte nie das Gefühl, auf etwas verzichten zu müssen“,
sagt sie. „Die Nachkriegserfahrung ist da hilfreich. Die
Durchschlagementalität. Ich hatte keine Angst.“ Und ihre Schwester: „Das
ist bei mir anders. Ich war froh, einen Job zu haben.“
Neues im Alten: „Nach ein paar Jahren wurde es mir in Paris zu eng“, sagt
Traude Bührmann. Mit dem Schreiben, dem Veröffentlichen, den zwei Sprachen
– es war kompliziert. Sie kam zurück, machte, was sie vorher auch tat,
organisierte Kulturevents, war dabei, als der Lesbenchor Spreediven
gegründet wurde, organisierte Gedenkveranstaltungen für vergessene
Frauenrechtlerinnen, schrieb Bücher. „Fünfzehn mindestens.“ Zuletzt wurden
ihre Reiseerinnerungen veröffentlicht. „In die Welt hinaus; in die Welt
hinein“, ist der Titel. „Ein halbes Jahrhundert meiner Reisen
zusammengetragen, ein Vermächtnis an die Frauenbewegungen“, sagt sie. Das
Buch zeigt: Es gibt eine weibliche Ästhetik.
Attac: Während Traude sich in der lesbisch-feministischen Bewegung
verwurzelte, ging Iris in den sozialen Bewegungen auf. Sie schloss sich
Attac an, setzte sich gegen die Privatisierung der Bahn ein, war beim Kampf
gegen Gentechnik auf Äckern dabei, derzeit treibt sie die Unmenschlichkeit
der EU um, die Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken lässt. Sie wohnt in
einem Hausprojekt mit Gleichgesinnten. „Ich wollte einen Ort finden zum
Leben. Ohne Autos. Ich bin gegen Autos“, sagt sie.
Und, war es das? Iris Bührmann denkt jetzt oft über das Sterben nach. Wie
sie selbstbestimmt sein kann, auch über den Tod hinaus. Und Traude sorgt
ganz praktisch dafür, dass sich zwölf Frauen finden, die eine Patenschaft
für ein historisches Grab auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Berlin
übernehmen. Später dann werden sie dort, in dieser Lesben-Grab-WG, auch
beerdigt. „Bisher ist noch keine eingezogen“, sagt Traude Bührmann.
27 Sep 2020
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## AUTOREN
Waltraud Schwab
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