| # taz.de -- Geflüchtete an lettischer Grenze: Folter und Abschiebung | |
| > Amnesty International erhebt Vorwürfe gegen die Regierung in Riga wegen | |
| > des Umgangs mit Geflüchteten. Die EU-Kommission habe das Vorgehen | |
| > unterstützt. | |
| Bild: Die Grenze zwischen Belarus und Lettland im September 2021 | |
| Berlin taz | „Für euch alle gibt es in Lettland nichts, keine Rechte“ – … | |
| solchen Worten zwangen „nicht identifizierte Spezialeinheiten in schwarzer | |
| Kleidung, bewaffnet und mit vermummten Gesichtern“ Schutzsuchende aus | |
| Lettland zurück nach Belarus. | |
| Das geht aus einem am Donnerstag veröffentlichen Bericht von Amnesty | |
| International hervor. Darin ist von schweren Menschenrechtsverletzungen, | |
| darunter auch Verbrechen nach internationalem Recht, die Rede. Diese seien | |
| seit Sommer 2021 von lettischen Grenzschützern gegen Flüchtlinge und | |
| Migranten an den Grenzen zu Belarus und in Haftanstalten verübt worden. Die | |
| Liste der Menschenrechtsverletzungen sei „lang und schockierend – und | |
| unterscheidet sich deutlich von der Art und Weise, wie Menschen, die vor | |
| dem Krieg in der Ukraine fliehen, in [1][Lettland] willkommen geheißen | |
| wurden,“ heißt es in dem Bericht. | |
| Ein Iraker, der etwa drei Monate lang an der Grenze festsaß, sagte Amnesty | |
| demnach, dass er mehr als 150 Mal zurückgeschoben worden sei, manchmal bis | |
| zu acht Mal pro Tag. Zwischen diesen Pushbacks hätten die Betroffenen an | |
| der Grenze festgesessen. Menschen seien demnach in streng bewachten Zelten, | |
| die in abgelegenen Waldstücken aufgebaut waren, willkürlich festgehalten | |
| worden. | |
| Die Behörden hätten Mobiltelefone der Menschen beschlagnahmt, um zu | |
| verhindern, dass sie mit der Außenwelt kommunizierten. Wer nicht in Zelten | |
| festgehalten wurde, musste in manchen Fällen bei Temperaturen von bis zu | |
| -20°C im Freien ausharren. | |
| ## „Grausames Ultimatum“ | |
| „Lettland hat Schutzsuchenden ein grausames Ultimatum gestellt: Entweder | |
| sie stimmen einer ‚freiwilligen‘ Rückkehr in ihr Herkunftsland zu, oder sie | |
| sitzen an der Grenze fest, wo ihnen Inhaftierung, Folter und rechtswidrige | |
| Abschiebung drohen“, sagte Julia Duchrow, Stellvertreterin des | |
| Generalsekretärs von Amnesty International in Deutschland. | |
| Zwischen Sommer 2021 und Ende Mai 2022 versuchten laut offiziellen | |
| lettischen Angaben 6.676 Menschen die Grenze aus Belarus zu überqueren. | |
| Ebenso wie Polen und Litauen hatte Lettland am 10. August 2021 den Notstand | |
| ausgerufen – dieser gilt bis heute. Dadurch konnten Menschen in vier | |
| lettischen Grenzregionen keine Asylanträge mehr stellen. Die lettischen | |
| Behörden sahen es als gerechtfertigt an, die Ankommenden direkt nach | |
| Belarus abzuschieben – laut Amnesty ein klar rechtswidriges Vorgehen. | |
| Die baltischen Staaten und Polen wurden dabei von der EU-Kommission | |
| bestärkt. Diese hatte Polen, Litauen und Lettland Anfang Dezember 2021 eine | |
| vorübergehende Aussetzung von Asylbestimmungen zugestanden. Die zunächst | |
| auf ein halbes Jahr begrenzten Ausnahmeregelungen erlaubten die Frist für | |
| die Prüfung von Asylanträgen auf 16 Wochen auszudehnen. | |
| Während dieser Zeit können die Asylsuchenden in Auffangzentren an der | |
| Grenze festgehalten werden. Außerdem schlug die EU-Kommission „vereinfachte | |
| und schnellere“ Rückführungen von Migranten vor, deren Asylgesuch abgelehnt | |
| wurde. Diese „Gegenmaßnahmen“ seien vom EU-Recht gedeckt, wenn „ein oder | |
| mehrere Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von | |
| Drittstaatsangehörigen in einer Notlage“ sind, so die EU-Kommission damals. | |
| ## Mehr Flexibilität | |
| Sie sollten den drei Staaten in einer „beispiellosen“ Situation | |
| „Flexibilität“ ermöglichen, sagte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson. Die | |
| Kommission versucht derzeit, diese Sonderregeln dauerhaft als mögliche | |
| Reaktion auf „Instrumentalisierung“ von Flüchtlingen festzuschreiben. | |
| Polen hatte die von Brüssel vorgeschlagenen Maßnahmen damals als | |
| „kontraproduktiv“ abgelehnt. Die Asylverfahren müssten stattdessen gänzli… | |
| eingestellt werden, sagte der polnische Botschafter bei der EU, Andrzej | |
| Sados, damals. Er fürchtete eine „Überlastung“ bei der Prüfung von | |
| Asylverfahren. „Wir hatten vorgeschlagen, dass die Antwort auf einen | |
| hybriden Angriff die Möglichkeit sein sollte, Asylverfahren auszusetzen, | |
| und nicht, sie auszuweiten.“ Lettland scheint genau diesen Weg gegangen zu | |
| sein. | |
| „Die Europäische Kommission schien die Maßnahmen der drei Länder voll und | |
| ganz zu dulden, was das Narrativ der „hybriden Bedrohung“ vorantrieb“, | |
| schreibt nun Amnesty angesichts der durch die aktuellen Befragungen zutage | |
| getretenen Menschenrechtsverletzungen. | |
| Bereits im Mai hatte die NGO Ärzte ohne Grenzen einen Report | |
| veröffentlicht, nachdem [2][das Nachbarland Litauen] mehr als 2.500 | |
| Geflüchtete und Migrant*innen seit damals neun Monaten unter | |
| menschenunwürdigen Bedingungen in Haft hielt. Auch sie waren im vergangenen | |
| Winter und Herbst aus Belarus in das Land gekommen. | |
| „Unsere Teams haben gesehen, welche körperlichen und psychischen Schäden | |
| die Menschen von der Inhaftierung davontragen“, sagte Georgina Brown, | |
| Landeskoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen in Litauen, bei der Vorstellung | |
| des Berichts. „Die Menschen erhalten kein faires Asylverfahren, und es gibt | |
| keine spezialisierte Unterstützung für Menschen mit psychiatrischen | |
| Erkrankungen oder Überlebende von Folter und sexueller Gewalt.“ | |
| 13 Oct 2022 | |
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| [1] /Fluechtlinge-an-der-Grenze-zu-Belarus/!5823015 | |
| [2] /Fluechtlingspolitik-der-EU/!5816081 | |
| ## AUTOREN | |
| Christian Jakob | |
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