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# taz.de -- Gedenktag 8. Mai: Opa war schrecklich kalt im Krieg
> Den 8. Mai zum Tag der Befreiung umzulabeln, tat der heimischen Seele
> gut. Dabei wurde 1945 die Welt befreit, nicht die große Mehrzahl der
> Deutschen.
Bild: Berlin, Mai 1945: Deutsche Soldaten auf dem Weg in sowjetische Kriegsgefa…
Der sogenannte 78. „Tag der Befreiung“ wird in Deutschland auch dieses Jahr
mit den üblichen öffentlichkeitswirksamen Gedenkzeremonien begangen. Erst
25 Jahre nach dem Weltkriegsende wurde der 8. Mai unter Willy Brandt
offiziell gewürdigt, während die CDU noch immer mit Bedauern von einer
Niederlage sprach, die kein Grund zum Feiern sei.
15 weitere Jahre später erlangte das Datum als politischer Gedenktag an die
Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus Bedeutung in der BRD. In der
DDR wurde dieser Tag hingegen bereits ab 1950 begangen, auch hier als Tag
der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus.
Doch mit der Bezeichnung des historischen Ereignisses, woran erinnert
werden sollte, scheint man es nicht allzu genau genommen zu haben, bis
heute nicht. Denn wer wurde eigentlich befreit? Waren es tatsächlich die
Deutschen, die den schlimmsten industriellen Genozid aller Zeiten gegen
sechs Millionen Jüdinnen:Juden und etwa eine Million Sinti:zze und
Roma:nja verübten?
Die Deutschen, die einen Vernichtungskrieg gegen Osteuropa begonnen,
osteuropäische Menschen ausgehungert, versklavt, vergewaltigt und aus
rassistischen Motiven zu Millionen ermordet haben? Die mehrheitlich bis
Kriegsende glühende Anhänger Hitlers waren? Die massiv von der Enteignung
ihrer jüdischen Nachbarn profitierten und noch 1945 zu Millionen in der
NSDAP gewesen sind?
## Die Deutschen werden selbst zu Opfern stilisiert
Die Geschichte, wie sie an deutschen Schulen immer noch weitgehend gelehrt
wird, verdrängt diese historische Realität. Da sind es Hitler und seine
Nazischergen gewesen, die diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit ganz
allein verübt haben sollen. Außer über deutsche Jüdinnen:Juden lernt
man kaum etwas über die anderen jüdischen und nichtjüdischen Opfer der
Nazis, die mehrheitlich osteuropäische Muttersprachen hatten.
Stattdessen werden die Deutschen selbst zu Opfern Hitlers stilisiert. Sie
sollen keine andere Wahl gehabt oder gar massenweise im Widerstand gekämpft
haben. Fast klingt es, auch durch Verwendung des Begriffs der
„Machtergreifung Hitlers“ so, als wäre das arme Deutschland 1933-45
gewaltsam von Hitler besetzt worden.
Diese Mythen halten sich hartnäckig. Denn es ist eben leichter, sich an den
frierenden Großvater zu erinnern, der nach seinem Wehrmachtseinsatz in
Stalingrad in sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet, als an die
sowjetischen Dörfer, die er auf dem Weg dorthin niederbrannte oder an
andere von ihm begangene Kriegsverbrechen; oder an die Lüge über die
Großeltern, die ihre jüdischen Nachbarn versteckten, anstatt an ihre
tatsächliche antisemitische Gesinnung oder ihr Denunziantentum; an den
Mythos der Trümmerfrauen oder an marodierende und vergewaltigende
Rotarmisten.
Dieser Verdrängung leisten auch deutsche Medien Vorschub, [1][die noch
immer Erinnerungen von Wehrmachtsoffizieren veröffentlichen], in denen sie
über ihre Leiden an der Front klagen, ohne diese und die antisemitischen
und rassistischen Aussagen darin zu kontextualisieren. Oder Serien und
Filme wie „Unsere Mütter Unsere Väter“, [2][die deutschen Nazis ein
menschliches Antlitz verleihen sollen], während [3][Meisterwerke wie „Komm
und Sieh“], die über den belarussischen Partisanenkampf und den
rassistischen Vernichtungskrieg der Deutschen gegen diese erzählen,
hierzulande wenig beachtet oder sogar zu Sowjetpropaganda erklärt wurden.
## Weltmeister im Schlussstrich ziehen
All das trägt zu einer [4][von mehr als der Hälfte der Deutschen
vertretenen Schlussstrichmentalität] und Selbstbeweihräucherung als
Erinnerungsweltmeister bei, die davon absehen, sich nicht nur mit der
kollektiven, sondern auch der individuellen Schuld zu beschäftigen. Diese
brechen sich auch an Tagen wie dem 8. Mai Bahn. Denn wer von der Befreiung
Deutschlands spricht, der ist meistens nicht bereit, die tatsächliche
Schuld der Deutschen einzugestehen und sich mit ihr zu beschäftigen.
Befreit wurde gewiss die Welt vom nazistischen Deutschland, wurden Jüdinnen
und Juden aus Vernichtungslagern, wurden abgeriegelte und besetzte
osteuropäische Dörfer und Städte durch die Rote Armee. Der Berliner
Antisemitismusbeauftragte [5][Samuel Salzborn spricht davon], dass die
deutsche Gesellschaft heute erst am Anfang der Aufarbeitung der eigenen
Vergangenheit stehe. Ein Schritt in Richtung des aufrichtigen Erinnerns
wäre die Umbenennung dieses historisch bedeutsamen Datums in „Tag des
Sieges über den deutschen Faschismus“ am Beispiel der USA oder zahlreicher
osteuropäischer Länder und seine Ernennung zum offiziellen Feier- und
Gedenktag.
8 May 2023
## LINKS
[1] https://www.deutschlandfunk.de/deutschlandfunk-beitrag-in-der-kritik-100.ht…
[2] /Nationalsozialismus-in-deutschen-Serien/!5574813
[3] /Spielfilm-ueber-den-Zweiten-Weltkrieg/!5719183
[4] https://www.zeit.de/2020/19/erinnerungskultur-nationalsozialismus-aufarbeit…
[5] /Neues-Buch-von-Samuel-Salzborn/!5698095
## AUTOREN
Anastasia Tikhomirova
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