Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Der Tag der Befreiung oder wie?: Der 8. Mai wirft Fragen auf
> Unsere Kolumnistin wäre nie auf die Idee gekommen, den 8. Mai nicht als
> Tag der Befreiung zu begreifen. Ihr Schwiegervater sieht das ganz anders.
Bild: Blick aufs Areal des sowjetischen Ehrenmals in der Schönholzer Heide in …
Als Kind spielte ich manchmal, die Welt wäre nur da, wenn ich sie sähe.
Mächtige Lebewesen bauten sie für mich, während ich schlief oder mit
geschlossenen Augen an der Hand meiner Mutter die Straße entlanglief. Ich
versuchte sie zu erwischen, so, wie ich im Puppentheater die Puppenspieler
hinter dem schwarzen Tuch entdeckt hatte; wie ich erkannt hatte, dass die
Hexe in der Kinderoper „Hänsel und Gretel“ keine Frau war. „Das ist ja e…
Mann!“, rief ich laut, als ich die Gesichtszüge und Bewegungen als männlich
las, und die Erwachsenen im dunklen Zuschauerraum lachten. Sie hatten es
also gewusst.
Ich wuchs heran und lernte die Welt zu sortieren in Jungs und Mädchen, Ost
und West, links und rechts, Gut und Böse. Ich lernte Zeichen lesen.
Buchstaben, Zahlen, Kleidungsstücke.
Jungs mit langen Haaren, die Kapuzenpullover trugen, waren links. Jungs
mit Glatze und Bomberjacke waren rechts.
„Anarchos tragen Springerstiefel mit roten Schnürsenkeln, Faschos mit
weißen“, erklärte ich meiner Mutter. „Mach bloß vorsichtig“, sagte mei…
Mutter.
## Eine überlebenswichtige Frage
Die Welt wurde komplizierter. Nun gab es auch Punks und Oi!-Skinheads, die
auch links waren oder behaupteten, unpolitisch zu sein.
Ich verstand gar nicht, was das sein sollte, unpolitisch. Die Frage war
doch überlebenswichtig, oder nicht? Man hatte mich gelehrt, dass es meine
Familie nicht mehr gäbe, wenn die Nazis gesiegt hätten.
Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, den 8. Mai nicht als Tag der
Befreiung zu begreifen. Niemals auf den Gedanken, irgendjemand könnte am 8.
Mai etwas anderes als Dankbarkeit empfinden.
„Ich verstehe überhaupt nicht, was es da zu feiern gibt“, sagte mein
Schwiegervater letztes Wochenende. Er war aus Flensburg zu Besuch. Mein
vierjähriger Sohn und er lieben sich abgöttisch. Mein Schwiegervater ist 82
Jahre alt, gebürtiger Russlanddeutscher, deutsche Enklave auf dem Gebiet
der heutigen Ukraine, Vater gefallen, zwei Geschwister auf der Flucht vor
der Roten Armee gestorben. Er war so alt, wie mein Sohn heute ist, als er
sich mit seiner Mutter auf den Weg nach Westen machte. Später Elektriker
bei der Marine, Haus gebaut, fünf Kinder aufgezogen, mit 50 in
Vorruhestand, CDU-Wähler aus Überzeugung. Er kann nicht verstehen, dass der
SSW im Schleswig-Holsteinischen Landtag sitzen darf. Scholz ist ihm
suspekt, Habeck findet er gut. Die Abkürzung DDR würde er nie verwenden, er
hat immer Zone gesagt.
## Jeder hört nur seine eigene Geschichte
Er ist ein alter Mann. Er liebt mich, wie ein Schwiegervater seine
Schwiegertochter lieben kann. Er ist Familie. Aber seine Äußerungen machen
mir Angst. Ich weiß, dass man Leid nicht gegeneinander aufwiegen kann. Am
Ende hört jeder nur seine eigene Geschichte.
Als mein Schwiegervater Ende September das letzte Mal bei uns war, jährte
sich das Massaker von [1][Babyn Jar], nahe der ukrainischen Hauptstadt
Kiew, zum 80. Mal. Innerhalb von 48 Stunden hatte die deutsche Wehrmacht
dort 1941 mehr als 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet und
ihre nackten Leichen in die Schlucht geworfen. Die Bilder des Massengrabs
gingen um die Welt. Sie waren an jenem Abend in der „Tagesschau“ zu sehen.
Kommentar meines Schwiegervaters: „Ja, das zeigen sie, aber unsere
Geschichte interessiert wieder keinen.“
„Das stimmt doch nicht“, sagte mein Mann müde, und ich ging ich aus dem
Zimmer, um nicht zu schreien.
Es gibt keinen Konsens. Am Ende läuft jeder von uns mit geschlossenen Augen
an der Hand seiner Mutter durchs Leben.
Wie wunderbar, dass die Demokratie es trotzdem geschafft hat in
Deutschland. Daran versuche ich, mich festzuhalten. Als mein Schwiegervater
abgereist war, haben wir ein Gänseblümchen am Sowjetischen Ehrenmal in der
[2][Schönholzer Heide] abgelegt. Für Frieden.
12 May 2022
## LINKS
[1] /80-Jahre-Massaker-bei-Kiew/!5800422
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Sowjetisches_Ehrenmal_(Sch%C3%B6nholzer_Heide)
## AUTOREN
Lea Streisand
## TAGS
Schwerpunkt Stadtland
Kolumne Immer bereit
Schwerpunkt Tag der Befreiung
Frieden und Krieg
8. Mai 1945
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Stadtland
Schwerpunkt Stadtland
Schwerpunkt Stadtland
## ARTIKEL ZUM THEMA
Gedenktag 8. Mai: Opa war schrecklich kalt im Krieg
Den 8. Mai zum Tag der Befreiung umzulabeln, tat der heimischen Seele gut.
Dabei wurde 1945 die Welt befreit, nicht die große Mehrzahl der Deutschen.
Krieg in der Ukraine: Tag des Krieges
Putin instrumentalisiert den Krieg gegen Nazideutschland für seinen
irrsinnigen Angriff gegen die Ukraine. Der „Tag des Sieges“ steht in neuem
Licht.
Ukraine in der Gegenoffensive: Soldat soll vor Gericht
Ukraine kündigt Prozess gegen russischen Kriegsgefangenen an.
UN-Menschenrechtsrat hält Sondersitzung über russische Kriegsverbrechen ab.
Berliner Alltag: Kinderlachen, Kinderweinen
Die Kolumne spannt einen weiten Bogen. Vom Krieg in der Ukraine und
Kriegsflüchtlingen bis zu den Supermüttern im Berliner Bezirk Prenzlauer
Berg.
Der Krieg und die Kinder: Die Welt leuchtet gelb und blau
Letzte Woche hat die Autorin bei blau und gelb noch an Elche und
Zimtschnecken gedacht. Nun demonstriert in ihrem Kopf selbst Ikea gegen
Putin.
Praktische Aspekte der Pandemie: Vom Leben ausgeschlossen
Mit Corona lässt sich auch im Privaten eine ganze Menge rechtfertigen, hat
taz-Kolumnistin Lea Streisand erfahren. Etwa die eigene Trägheit.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.