| # taz.de -- Praktische Aspekte der Pandemie: Vom Leben ausgeschlossen | |
| > Mit Corona lässt sich auch im Privaten eine ganze Menge rechtfertigen, | |
| > hat taz-Kolumnistin Lea Streisand erfahren. Etwa die eigene Trägheit. | |
| Bild: Nicht mehr ins Restaurant wegen Corona? Das missfällt nicht jedem.. | |
| Nach zwei Jahren können wir es ja sagen: Es ist nicht alles schlecht an | |
| dieser Pandemie. Das Gute an Corona ist zum Beispiel, dass man es für alles | |
| benutzen kann – Corona ist an allem schuld. [1][Die S-Bahn fährt nicht | |
| wegen Corona.] Den Schulen fehlen die Lehrkräfte. Corona! Deutsche Behörden | |
| sind undurchsichtig und überbürokratisch? Schuld ist Corona! | |
| Aber auch im Privaten kann man die Pandemie vielfältig einsetzen. | |
| Mein Ehemann gilt jetzt als nicht geboostert, weil er sich mit dem | |
| Arme-Leute-Impfstoff hat erstimpfen lassen. Einen Abend lang saß er auf dem | |
| Sofa neben mir und hat gepoltert. „Schätzchen“, versuche ich ihn zu | |
| beruhigen. „Wenn du Angst vor Corona hast, erkundigen wir uns, wann du dich | |
| wieder impfen lassen kannst.“ Der Gatte verschränkt die Arme vor der Brust | |
| und schimpft. „Hab schon. Nach drei Monaten.“ Ich gucke ihn an. „Das ist | |
| doch bald. Worüber regst du dich auf?“ | |
| Mein Mann fuchtelt mit den Händen durch die Luft und ruft. „Darüber, dass | |
| ich vom öffentlichen Leben komplett ausgeschlossen werde. Dabei habe ich | |
| mich damals mit Johnson und Johnson impfen lassen, um den Vorerkrankten und | |
| den Senior*innen nicht den guten deutschen Impfstoff wegzunehmen …“ | |
| Jetzt muss er selber lachen. „Den Ostdeutschen hast du vergessen“, sage | |
| ich. „Ja!“, ruft der Gatte. „Ich als Norddeutscher Anfang vierzig habe | |
| Menschen wie dir und deiner Mutter …“ | |
| Ich streichele sein schütteres Haupthaar. Der Mann braucht jetzt Mitleid: | |
| „Und niemand hat sich bei dir bedankt“, sage ich. „Dabei bist du das | |
| eigentliche [2][Opfer dieser Pandemie].“ „Ja!“, ruft mein Mann. „Ich und | |
| Homer Simpson.“ Mein Mann hat irgendwann festgestellt, dass er jetzt | |
| genauso alt ist wie die Zeichentrickfigur, sich also technisch gesehen auch | |
| nicht mehr vom Sofa erheben muss, seinen Job hassen darf und trotzdem der | |
| König der Welt ist. | |
| ## Der Mann nickt und kichert | |
| „Aber Schätzchen?“, sage ich. „Von welchem öffentlichen Leben fühlst du | |
| dich denn jetzt ausgeschlossen?“ Er grummelt. „Na … Kino!“ Ich lache ihn | |
| aus. „Du magst überhaupt kein Kino, Theater findest du affig. Du kommst | |
| nicht mal mehr zu meinen Lesungen, seit wir verheiratet sind.“ | |
| Der Mann nickt und kichert. Ich weiß noch, wie wir ganz frisch zusammen | |
| waren und ich noch drei bis vier Lesebühnen die Woche hatte und er nach | |
| einem Monat betreten fragte, ob es vielleicht okay wäre, wenn er heute | |
| Abend mal nicht im Publikum säße. Ich war so gerührt. So lange hatte bis | |
| dahin noch keiner durchgehalten. Na ja. Nu sind wir 7 Jahre verheiratet, | |
| vierzehn zusammen … | |
| „Wo willst du denn hin, wo 2G-plus herrscht?“, frage ich ihn auf dem Sofa. | |
| [3][„Ins Restaurant“], sagt er und versucht, die Mundwinkel unten zu | |
| halten. Unser Sohn gehörte zu der Sorte Babys, die, wenn sie aufrecht | |
| stehen können, all ihre ungezügelte, sich stetig vermehrende Kraft zur | |
| kontinuierlichen Zerstörung ihrer selbst und ihrer Umgebung einsetzen. | |
| Wir haben immer noch an jedem Schrank und jeder Schublade in unserer | |
| Wohnung diese hässlichen Kindersicherungen aus Plastik kleben, falls wir | |
| noch mal so eins kriegen. Mittlerweile hat das Kind mehr Tischmanieren als | |
| ich, aber in dem Moment, da bei ihm die Vernunft einsetzte, kam Corona und | |
| unsere Lust auf Restaurantbesuche verfloss wie Mineralwasser auf einer | |
| Tischdecke. | |
| „Du möchtest doch generell am liebsten überhaupt nicht mehr das Haus | |
| verlassen, seit wir ein Kind haben“, sage ich zu meinem Mann auf dem Sofa. | |
| Er guckt mich an. „Ich wollte auch vorher schon nicht das Haus verlassen“ | |
| sagt er. „Da hab ich mich nur nicht getraut, es zu sagen.“ Wie gesagt, | |
| Corona lässt sich für alles benutzen. Auch zur Rechtfertigung der eigenen | |
| Trägheit. | |
| 30 Jan 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Berliner-Nahverkehr-in-der-Pandemie/!5829960 | |
| [2] /Berliner-Obdachlose-waehrend-Corona/!5827758 | |
| [3] /Corona-und-die-Berliner-Restaurants/!5827520 | |
| ## AUTOREN | |
| Lea Streisand | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Kolumne Immer bereit | |
| Pandemie | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Kolumne Immer bereit | |
| Berlin-Pankow | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Der Tag der Befreiung oder wie?: Der 8. Mai wirft Fragen auf | |
| Unsere Kolumnistin wäre nie auf die Idee gekommen, den 8. Mai nicht als Tag | |
| der Befreiung zu begreifen. Ihr Schwiegervater sieht das ganz anders. | |
| Berliner Alltag: Kinderlachen, Kinderweinen | |
| Die Kolumne spannt einen weiten Bogen. Vom Krieg in der Ukraine und | |
| Kriegsflüchtlingen bis zu den Supermüttern im Berliner Bezirk Prenzlauer | |
| Berg. | |
| Lea Streisand ist auf Tanne allergisch: Kernfamilie im Nadelwald | |
| Corona hat nicht nur Nachteile. Manche Fragen haben sich früher überhaupt | |
| nicht gestellt. Was etwa passiert, wenn plötzlich ein Baum im Haus ist. | |
| Schwierigkeiten beim Einparken: Die Kunst des Parkens mit dem Rad | |
| Wenn man mit dem Fahrrad unterwegs ist, muss man das auch irgendwann | |
| abstellen. Fahrradständer bieten sich dafür an. Das kann die Hölle sein. |