# taz.de -- Lea Streisand ist auf Tanne allergisch: Kernfamilie im Nadelwald | |
> Corona hat nicht nur Nachteile. Manche Fragen haben sich früher überhaupt | |
> nicht gestellt. Was etwa passiert, wenn plötzlich ein Baum im Haus ist. | |
Bild: Genau so muss man einen Weihnachtsbaum anpacken, mit Handschuhen! | |
Nach zwei Jahren Pandemie kann ich es ja sagen. Corona hat nicht nur | |
Nachteile. Manche Fragen haben sich vor einem Jahr überhaupt nicht | |
gestellt. Mit wem man Weihnachten feiert zum Beispiel. Die Antwort war | |
einfach. Mit gar keinem. Mutter, Vater, Kind, fertig. Wir hatten noch Oma | |
und Opa dabei. Den Rest der Familie konnten wir wunderbar vermissen. | |
Sehnsucht gedeiht in den Leerstellen, die eine Person hinterlässt, wenn sie | |
abwesend ist. Es war ein herrlich besinnliches Fest. | |
Letztes Jahr hatten wir stattdessen das erste Mal einen richtigen | |
Weihnachtsbaum. Wunderschön sah er aus. Die ganze Wohnung duftete nach | |
Wald. | |
Und dann, drei Tage nach Weihnachten, wachte ich nachts in meinem Bett auf | |
und hatte: HALSSCHMERZEN. So, dachte ich, das war’s. Nu haste Corona. Am | |
nächsten Morgen rief ich meine Freundin Frieda an, sie ist Ärztin, ob sie | |
mich testen kann. Von frei verkäuflichen Tests waren wir damals noch weit | |
entfernt. | |
„Klar, kann ich machen“, sagte Frieda, „aber ganz ehrlich, wo willst du | |
denn Corona herhaben?“ | |
„Weeß icke“, sagte ich, „vom Paketboten?“ | |
„Wieso?“, sagte Frieda, „Hat der Corona?“ | |
„Nee, keine Ahnung“, meinte ich, „aber er ist mein einziger Fremdkontakt. | |
Der spurtet hier immer die Treppe hoch und funkelt mich mit seinen braunen | |
Augen an: Frau Streisand, ein Paket für Sie.“ | |
„Und?“, kicherte Frieda. „Bist du dem irgendwie näher gekommen?“ | |
„Türlich nicht“, erwiderte ich entrüstet. „Es ist Corona!“ Frieda und… | |
verabredeten uns trotzdem zum Testen. Bei ihr im Hinterhof. | |
## Misstrauisch schaute ich den Baum an | |
Als ich auflegte, musste ich niesen. Dieses Jucken, dachte ich, das kommt | |
mir bekannt vor. Misstrauisch schaute ich den Baum an. Langer Rede kurzer | |
Sinn: Ich bin auf Tanne allergisch. Das Verhältnis Tanne vs. Wohnung war | |
einfach zu krass für meine Lunge, da hat sie rebelliert. Der Baum | |
verbrachte den Rest der Weihnachtszeit auf dem Balkon und dieses Jahr gab | |
es nur einen ganz kleinen. | |
Mittlerweile sind wir alle geimpft und geboostert und schon müssen wir | |
wieder Entscheidungen treffen. Mit wem wir feiern. Und wo. Und wie. | |
Menschen, von denen man seit zwei Jahren nichts gehört und mit denen man | |
außer ein paar zusammengewürfelter Gene nicht gemeinsam hat, melden | |
plötzlich Harmonieansprüche an. | |
Und im Prinzip haben sie ja recht. Eine der berühmtesten | |
Weihnachtsgeschichten der Welt handelt davon, wie ein narzisstischer alter | |
Sack unter Androhung ewiger Verdammnis zum mitfühlenden Menschen umerzogen | |
wird. Indem er zur Reflexion gezwungen wird über sein eigenes Leben und das | |
der anderen. | |
## Das ist unfassbar anstrengend | |
Es bleibt die ewige Hoffnung der Autor*innen, dass Erzählen die | |
Menschheit heilt. Dass Lesen und Zuhören das Einfühlungsvermögen fördern | |
und zur Verständigung beitragen. Ich habe dieses Jahr meine fünfte | |
Psychotherapie abgeschlossen und habe gelernt, dass ich vermutlich nur | |
deshalb Geschichtenerzählerin geworden bin, weil ich mich schon mein ganzes | |
Leben lang erklären muss. Weil ein Kind mit Behinderung (neben Allergien | |
und einer überstandenen Krebserkrankung noch eine Gehbehinderung) in einer | |
narzisstischen Umgebung nur überlebt, wenn es so gut erklären kann, dass es | |
selbst dem, der nur sich selbst sieht, die Augen öffnet. Das ist unfassbar | |
anstrengend. Und bringt manchmal trotzdem nichts. | |
Ich sei doch gar nicht so schlimm behindert, wurde mir dieses Jahr von | |
mehreren Seiten mitgeteilt. Ich sei einfach nur faul und eine Prinzessin | |
und wenn ich mich nur richtig anstrengen würde, könne ich dasselbe Leben | |
führen wie ein weißer cis*Mann ohne Behinderung. | |
Frieda sagt, man dürfe nicht mit der Familie brechen. Schon gar nicht zu | |
Weihnachten. Ich sehe das mittlerweile anders. | |
Besinnliche Festtage allerseits! | |
25 Dec 2021 | |
## AUTOREN | |
Lea Streisand | |
## TAGS | |
Kolumne Immer bereit | |
Pakete | |
Schwerpunkt Stadtland | |
Psychotherapie | |
Weihnachten | |
Schwerpunkt Stadtland | |
Schwerpunkt Stadtland | |
Kolumne Ethikrat | |
Behindertengleichstellungsgesetz | |
Berlin-Pankow | |
Kolumne Immer bereit | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Berliner Alltag: Kinderlachen, Kinderweinen | |
Die Kolumne spannt einen weiten Bogen. Vom Krieg in der Ukraine und | |
Kriegsflüchtlingen bis zu den Supermüttern im Berliner Bezirk Prenzlauer | |
Berg. | |
Praktische Aspekte der Pandemie: Vom Leben ausgeschlossen | |
Mit Corona lässt sich auch im Privaten eine ganze Menge rechtfertigen, hat | |
taz-Kolumnistin Lea Streisand erfahren. Etwa die eigene Trägheit. | |
Kraft, Wille und gute Vorsätze: Eine Frage des Selbstkonzepts | |
Der Ethikrat verbrennt Geld. Und eine Polaroid-Kamera kommt zum Einsatz. | |
Wie bitte? Über den Wert guter Vorsätze zum Jahresbeginn. | |
Zu leicht für den Schreibstuhl: Man muss ein Mann sein | |
Schreibtischstühle funktionieren erst ab einem Gewicht von 70 Kilo – vorher | |
geht die Federung nicht. Stellt sich die Frage: Was tun, wenn man leichter | |
ist? | |
Schwierigkeiten beim Einparken: Die Kunst des Parkens mit dem Rad | |
Wenn man mit dem Fahrrad unterwegs ist, muss man das auch irgendwann | |
abstellen. Fahrradständer bieten sich dafür an. Das kann die Hölle sein. | |
Verkehrsfrust in Berlin: Bunt lackierter Sondermüll | |
Auch wenn man auf dem Land nur vom Trekker überfahren wird: Manchmal hat | |
man echt keinen Bock mehr auf diese olle Stinkestadt. |