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# taz.de -- Gedenkstätten-Chef über Provokateure: „Rechte bekommen Diskursh…
> Die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen erlebt mehr Provokateure, die die Shoah
> anzweifeln, sagt Jens-Christian Wagner.
Bild: Provokationen werden hier bei Führungen häufiger: Gedenkstätte Bergen-…
taz: Herr Wagner, sind rechte Provokateure, von denen Sie jüngst
berichteten, in KZ-Gedenkstätten etwas Neues?
Jens-Christian Wagner: Nein. Abwehr und Leugnung von NS-Verbrechen sind
nicht neu. Wir beobachten aber, dass dies durch Gedenkstätten-Besucher
sagbarer geworden ist und dass es häufiger vorkommt. Außerdem erleben wir,
dass in Besuchergruppen – auch bei Schülern – Einzelne offenbar gezielt
darauf vorbereitet wurden, provozierende Fragen zu stellen. Ziel sind
Scheindebatten, in denen revisionistische Überzeugungen verkündet werden.
Woran erkennen Sie diese Fragen?
Es sind Signalfragen, die zunächst harmlos erscheinen, aber einen
provozierenden Hintergedanken haben. Der Klassiker: Es wird nicht
geleugnet, dass es in Bergen-Belsen hohe Opferzahlen gab, insbesondere
1945, in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs. Der Provokateur
behauptet aber, dies sei die Folge kriegsbedingter Versorgungsengpässe
wegen der Luftangriffe der Alliierten gewesen. Daher seien die Alliierten
an dem Massensterben in Bergen-Belsen schuld – und nicht die SS, die die KZ
verwaltete und bewachte.
Womit argumentieren die Provokateure noch?
Mit den Rheinwiesenlagern. Das waren 1945 errichtete US-amerikanische
Kriegsgefangenenlager entlang des Rheins mit einigen Tausend Toten. Die
„Provokateure“ führen – echte oder erfundene – historische Studien an,…
denen hervorgehe, dass die Verhältnisse in den Rheinwiesenlagern schlimmer
waren als in Bergen-Belsen. Wenn dann unser Gedenkstätten-Mitarbeiter sagt,
das könne man nicht vergleichen, weil es eine Umkehr von Ursache und
Wirkung sei, da die Deutschen den Krieg begonnen hätten, heißt es: „Sie
leugnen die Verbrechen der Alliierten an den Deutschen, um uns einen
Schuldkult einzutreiben.“
Werden auch Opferzahlen angezweifelt?
Ja. Es gibt in Bergen-Belsen ein von jüdischen Überlebenden aufgestelltes
Mahnmal von 1946, das von 30.000 hier ermordeten Juden spricht. In unseren
Publikationen erwähnen wir aber 52.000 ermordete Häftlinge, von denen etwa
die Hälfte Juden waren, also 25.000 bis 26.000 Menschen. Dann sagt der
Provokateur: „Auf dem Mahnmal werden 5.000 Tote zu viel genannt. Da sieht
man wieder, wie in der Gedenkstätte Geschichte gefälscht wird.“
Wie reagiert die jeweilige Gruppe auf solche Reden?
Früher gab es in solchen Situationen gehörig Contra, und dann schwiegen die
Provokateure. Auch heute bekommen diese Leute in den meisten Gruppen
Contra. In einigen Gruppen aber wird nicht so klar widersprochen, und die
Rechten bekommen die Diskurshoheit. Das ist neu.
Wie erklären Sie sich das Schweigen der Mehrheit?
Ich denke einmal an die „Blasen“-Mentalität der Social Media, wo oft
Behauptung gegen Behauptung steht und echte Debatte nicht möglich ist.
Andererseits arbeiten die Provokateure mit vermeintlichem Spezialwissen,
das ihnen von geschichtsrevisionistischer Seite eingetrichtert wurde.
Auch durch Lehrkräfte?
Ja. Neulich ließen in einer Schülergruppe beim Besuch von Bergen-Belsen
einige Jugendliche provozierende Bemerkungen fallen. Auf Nachfrage sagte
die Lehrerin, sie sei kurzfristig für den regulären Geschichtslehrer
eingesprungen, einen AfD-Mann.
Sie sagten, die Provokationen häuften sich, dennoch seien es Einzelfälle.
Die Gedenkstätten Neuengamme, Ahrensbök und Esterwegen etwa erleben bislang
nichts dergleichen. Wie repräsentativ sind Ihre Erfahrungen?
Das kann ich noch nicht sagen. Wir haben erst Ende 2019 begonnen, diese
Vorfälle in niedersächsischen Gedenkstätten zentral zu erfassen.
Wie reagieren Sie vor Ort?
Die Gedenkstätte Bergen-Belsen veranstaltet Schulungen für alle, die
Gruppen betreuen. Wir analysieren die Signalfragen und überlegen: Wie kann
man auf den Mythos der Rheinwiesenlager reagieren? Dazu gehört, dass man
die einschlägigen Studien kennt und nicht hilflos ist, wenn jemand
behauptet: „Der berühmte Historiker Schneider hat in seinem berühmten Buch
geschrieben, die Rheinwiesenlager seien schlimmer gewesen als
Bergen-Belsen.“ Dann kann man antworten: „Das ist das Buch eines
Holocaust-Leugners, erschienen in einem rechtsextremen Verlag. Wenn Sie
aber dieses und jenes andere Buch lesen, finden Sie seriöse Fakten.“
Reicht das?
Manchmal muss man auch Anzeige erstatten, wenn jemand den Holocaust leugnet
oder Volksverhetzung betreibt. Allerdings sind die Provokateure oft so
geschult, dass ihre Äußerungen (noch) nicht justiziabel sind. Dann bleibt
nur das Hausverbot.
Hängt das Erstarken revisionistischer Tendenzen auch mit dem wachsenden
Zeitabstand zur Schoah und dem Versterben der Überlegenden zusammen?
Ja. Hinzu kommt, dass die Relevanz des Themas für unser demokratisches
Miteinander oft nicht mehr erkannt wird. Das war in den ersten 60 Jahren
nach dem Zweiten Weltkrieg anders.
Wirklich?
Leugner hat es in den 1950er-, 1960er-Jahren zuhauf gegeben, das stimmt.
Aber im Grunde haben sich immer alle am Nationalsozialismus abgearbeitet –
selbst wenn es Abwehr war. Der Nationalsozialismus war immer die Folie, auf
der unsere Demokratie verhandelt wurde. Das hat nachgelassen.
Wie erklären Sie sich das?
Das ist einerseits generationell bedingt. Es hat aber auch mit Defiziten in
unserer öffentlichen Erinnerungskultur zu tun. Wir haben uns in den letzten
20 Jahren viel zu stark mit den Opfern befasst. Verstehen Sie das nicht
falsch: Das ist essenziell und wichtig. Nur hat die Trauer den Blick auf
die Täter verstellt. Unsere Gesellschaft hat sich zu wenig mit der
Funktionsweise der NS-Gesellschaft befasst – einer radikal rassistisch
organisierten, die mit Ausgrenzung einerseits und Integrationsangeboten an
die „Dazugehörigen“ andererseits arbeitete. Das NS-System war ein alle
gesellschaftlichen Bereiche umfassendes Geflecht aus Profiteuren,
Mitläufern und Zuschauern – von der Wirtschaft über Universitäten,
Bürokratie und Polizei bis zur Nachbarschaft mit ihren Denunziationen.
Diese Themen wurden in der öffentlichen Sicht auf den Nationalsozialismus
zu wenig berücksichtigt.
Die Gedenkstätte Neuengamme befasst sich seit Jahren sehr explizit in
Ausstellungen, Vorträgen und Publikationen mit genau diesen Themen.
Ja, auch andere Gedenkstätten machen das. Dies soll auch keine
Pauschalkritik an den Gedenkstätten sein. Es geht eher um den öffentlichen
Blick auf die NS-Verbrechen: Um Opfer zu trauern, ist eben einfacher, als
Fragen nach den Tätern zu stellen. Aber auch in den Gedenkstätten müssen
wir nachjustieren. In Bergen-Belsen, wo die Täter in der Dauerausstellung
nur wenig thematisiert werden, bereiten wir zum Beispiel derzeit eine
Sonderausstellung zu den Themen Täterschaft und Gesellschaft im Umfeld des
Lagers vor.
Wären verpflichtende Gedenkstättenbesuche für Schulklassen eine Lösung?
Nein. Letztlich kann nur Freiwilligkeit etwas bewirken, und das sagen wir
den Lehrern und Schülern auch. Abgesehen davon verändert ein
Gedenkstättenbesuch nicht zwangsläufig die innere Haltung. Ich habe schon
Rechtsextreme erlebt, die regelmäßig KZ-Gedenkstätten besuchen, um die
„Leistungen“ der Nationalsozialisten zu feiern.
14 Jan 2020
## AUTOREN
Petra Schellen
## TAGS
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Neuengamme
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Rechtsradikalismus
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UN-Resolution
Shoa
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