# taz.de -- G20-Elbchaussee-Prozess jetzt öffentlich: G20-Angeklagter klagt di… | |
> Kurz vor seinem Abschluss ist der Elbchaussee-Prozess wieder öffentlich. | |
> Der Angeklagte Loic S. gibt eine Erklärung ab, die ihn nicht entlastet. | |
Bild: Als Demonstrieren noch erlaubt war: Demo gegen den Elbchaussee-Prozesses … | |
HAMBURG taz | „Bitte setzen Sie ihre Masken auf, das hier könnte ein | |
Superspreader-Event sein“, sagt die vorsitzende Richterin Anne | |
Meier-Göring. Im Saal ist es trotz Coronaregeln knüppeldicke voll. | |
Die fünf Angeklagten, die sich wegen der [1][Krawalle an der Elbchaussee] | |
während des G20-Gipfels im Juli 2017 vor dem Hamburger Landgericht | |
verantworten müssen, haben jeweils zwei Pflichtverteidiger*innen. Außerdem | |
sind neben der Kammer samt Schöff*innen, einer Dolmetscherin und einem | |
Vertreter der Jugendgerichtshilfe auch ihre Angehörigen im Saal. Der | |
Elbchaussee-Prozess nähert sich dem Ende, deshalb ist am 64. | |
Verhandlungstermin zum ersten Mal seit anderthalb Jahren [2][die | |
Öffentlichkeit wieder zugelassen]. | |
Den fünf jungen Männern, von denen zum Tatzeitpunkt zwei minderjährig | |
waren, drohen hohe Haftstrafen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, am | |
morgen des 7. Juli 2017 Teil eines Aufzugs gewesen zu sein, der von der | |
Polizei unbemerkt durch die Elbchaussee gezogen war, Autos und Mülleimer | |
angezündet und Scheiben eingeschlagen hatte. Dunkle Rauchschwaden standen | |
damals am Himmel, der entstandene Sachschaden wird auf eine Million Euro | |
geschätzt. | |
Trotz der [3][aufwendigsten Öffentlichkeitsfahndung in der Geschichte der | |
Hamburger Strafverfolgung] sind die vier Offenbacher und der Franzose die | |
Einzigen, die die Ermittler*innen im Komplex Elbchaussee bislang vor | |
Gericht bringen konnten. | |
## Erziehung wiegt schwerer als Öffentlichkeit | |
Dass die Öffentlichkeit so lange ausgeschlossen war, hatte Meier-Göring im | |
Dezember 2019 gegen den Willen der Angeklagten angeordnet. Die Verehrung | |
der G20-Demonstrant*innen innerhalb der linken Szene könnte moralischen | |
Druck auf die Heranwachsenden ausüben, argumentierte die Richterin und | |
stellte das „Erziehungsinteresse“ über das Interesse der Öffentlichkeit. | |
Zum Ausgleich dafür räumte sie dem französischen Angeklagten Loic S. nun | |
die Möglichkeit ein, sich gegen Ende der Hauptverhandlung öffentlich zu | |
erklären. | |
Zu den Ereignissen an der Elbchaussee sagt S. in seiner einstündigen | |
Erklärung jedoch nichts. Stattdessen kritisiert er die ungleiche | |
Reichtumsverteilung auf der Welt, prangert Umweltzerstörung und | |
Globalisierung an, spricht über das Problem der nuklearen Abfälle und die | |
Macht von Konzernen wie Bayer und Monsanto, die weltweit Kleinbauern in die | |
Abhängigkeit trieben. Er berichtet von seiner Festnahme, dem | |
Gefangenentransport, der Zeit im französischen Gefängnis, den sechzehn | |
Monaten in der Hamburger U-Haft. | |
Es ist eine mutige Erklärung und eine, die ihn nicht unbedingt entlasten | |
wird. „Im Gefangenentransporter urinierte jemand auf den Boden, weil er | |
nicht auf die Toilette durfte“, schildert S. „Die Pippilache lief über den | |
Boden und ein Karton mit meinen Sachen sog sie auf.“ Später habe ein | |
Wärter, der den Umstand nicht bemerkte, den Karton ins Gefängnis getragen. | |
„Da stellte sich dann doch so etwas wie Gerechtigkeit ein“, sagt S., „denn | |
es ist nicht richtig, jemanden daran zu hindern, Pippi zu machen.“ | |
S. greift in seiner Rede auch die Justiz an. „Es gibt Steuerparadiese und | |
Milliarden Euro, die darin verschwinden. Es gab die Panamapapers und die | |
Luxleaks, aber im Knast habe ich keine Steuerhinterzieher und keine Reichen | |
getroffen, sondern nur Arme und Migranten. Das ist Klassenjustiz.“ Während | |
des ersten Monats in Untersuchungshaft habe er keine Wechselkleidung gehabt | |
und seine einzige Unterhose in der Dusche waschen müssen. Später habe seine | |
Familie ihm 50 Unterhosen geschickt, die er auch an die anderen Gefangenen | |
verteilt habe. | |
Mit Cornflakes-Packungen habe er das Spielfeld eines Risiko-Spiels | |
erweitert und Figuren aus Mehl, Wasser und Salz gebastelt, damit zwölf | |
statt sechs Gefangene mitspielen konnten. Er habe Alternativregeln | |
aufgestellt, damit es kein Wettbewerb, sondern ein Miteinander sei. | |
## „Ich möchte mich nicht entschuldigen“ | |
Gegen Ende seiner Rede kommt S. doch noch auf die Ereignisse des | |
G20-Gipfels zu sprechen. Im Schanzenviertel habe er beobachtet, wie | |
Polizist*innen mit Schlagstöcken einen Journalisten verprügelten und auf | |
Demonstrant*innen losgingen, offenbar nur weil sie sich in der Nähe der | |
Roten Flora aufhielten. Im Schatten eines Busches im Florapark hätten | |
Polizist*innen auf eine Person eingeknüppelt. „Ich bin von ruhiger Natur, | |
aber das Gefühl der Ungerechtigkeit empört mich“, sagt S.. Er habe zwei | |
Bierflaschen in Richtung der Polizist*innen geworfen. „Ich möchte mich | |
nicht entschuldigen“, sagt S. – „umso mehr, als dass es mir nicht gelang, | |
die Polizeibeamten zu treffen.“ | |
Dann schildert er eine andere Situation, in der er im Chaos zwischen | |
Demonstrant*innen, Barrikaden, Polizist*innen und Wasserwerfern einer alten | |
Dame über die Straße half. Am Bürgersteig angekommen habe der Strahl des | |
Wasserwerfers sie getroffen, offenbar nicht aus Versehen, sondern gezielt. | |
„Es ist sehr schwer, einen Polizisten in Dienstausrüstung zu verletzen, wie | |
es die Staatsanwaltschaft so vielen G20-Angeklagten vorwirft“, sagt S.. | |
„Wieso wirft niemand der Polizei vor, dass sie in Kauf genommen hat, die | |
alte Dame zu verletzen?“ Er habe daraufhin zwei Steine auf den Wasserwerfer | |
geworfen. „Warum schweigt das Gericht zur Polizeigewalt?“, fragt S. „Und … | |
sind in den Medien die Bilder von Polizisten, die mit Schlagstöcken auf | |
Schädel einschlagen?“ | |
Am Ende applaudieren die wenigen Zuschauer*innen, die trotz der | |
Coronabeschränkungen in den Zuschauersaal durften. Zum angekündigten | |
Plädoyer der Verteidigung kommt es aus zeitlichen Gründen nicht mehr. Das | |
Urteil soll am 10. Juli fallen. Aber dass der Komplex dann wirklich | |
abgeschlossen ist, ist damit nicht gesagt. | |
Die Staatsanwaltschaft hatte gleich zu Beginn klargemacht, dass sie die | |
Kammer um Meier-Göring für zu mild hält und [4][einen Befangenheitsantrag | |
gegen sie gestellt]. Wie das Oberlandesgericht hält die Anklagebehörde die | |
Krawalle in der Elbchaussee für einen arbeitsteilig organisierten, | |
beispiellosen Gewaltakt. Auch wenn den Angeklagten selbst keine Gewalttaten | |
nachzuweisen sind, hätten sie dennoch zum schweren Landfriedensbruch und | |
den Sachbeschädigungen beigetragen. Sollte die Strafe nach Ansicht der | |
Anklagebehörde nicht hoch genug ausfallen, wird der Bundesgerichtshof den | |
Prozess wohl neu aufrollen müssen. | |
Hinweis: In einer früheren Version dieses Beitrags zitierten wir Loic S. | |
mit den Worten „Ich möchte mich nicht dafür entschuldigen – höchstens | |
dafür, dass ich nicht getroffen habe.“ Dies war aber, wie aus der | |
[5][schriftlichen Version seiner Erklärung] hervorgeht, nicht seine | |
Aussage. | |
17 Jun 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Elbchaussee-Prozess-in-Hamburg/!5651552 | |
[2] /Aus-Gruenden-des-Jugendschutzes/!5561312 | |
[3] /Kommentar-Oeffentlichkeitsfahndung-G20/!5503839 | |
[4] /Verfahren-gegen-G20-Mitlaeufer/!5604289 | |
[5] https://eahh.noblogs.org/ | |
## AUTOREN | |
Katharina Schipkowski | |
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