# taz.de -- G20-Demonstrant über Untersuchungshaft: „Die erste Zeit ist schm… | |
> Loïc S. ist angeklagt, 2017 bei Krawallen gegen den G20-Gipfel in der | |
> Hamburger Elbchaussee gewesen zu sein. Ein Gespräch über Gerechtigkeit. | |
Bild: Loïc S. am Hamburger Fischmarkt, wo beim G20 die „Welcome to hell“-D… | |
taz: Herr S., heute könnte einer Ihrer vorerst letzten Tage in Freiheit | |
sein. Wie fühlt sich das an? | |
Loïc S.: Ich richte mein Leben nicht nach der Angst vor Repression aus, | |
sondern nach der Absicht meines Herzens. Ich hoffe, dass ich nicht direkt | |
wieder in den Knast muss, ich habe einen Urlaub mit meinen Eltern geplant. | |
Es wäre das erste Mal seit zwei Jahren, dass wir gemeinsam eine längere | |
Zeit verbringen könnten. Wir wollen an die Ostsee. | |
Haben Sie Angst vor dem Gefängnis? | |
Ich war [1][16 Monate in Untersuchungshaft]. Die erste Zeit ist | |
schmerzhaft, aber nach einer Zeit gewöhnt man sich daran. | |
Wie haben Sie die 16 Monate erlebt? | |
Das Schwierigste war, dass ich in den ersten vier Monaten 23 Stunden am Tag | |
in der Zelle bleiben musste. Du kannst nichts machen außer nachzudenken. | |
Man kann nach einem Fernseher fragen, aber man wird schnell verrückt, wenn | |
man Fernsehen im Gefängnis guckt. Es macht das Gehirn leer, es macht dumm. | |
Man kann doch auch Bücher lesen. | |
Es hat zwei Monate gedauert, bis die Bücher angekommen sind. Vier Monate | |
lang hatte ich keinen Zutritt zur Bibliothek, das ist ein Extragebäude, | |
nicht alle Gefangenen dürfen da rein. Es gab eine Kiste mit Büchern, aber | |
sie waren alle auf Deutsch. Im ersten Monat hatte ich nur die Kleidung, die | |
ich trug. Ich musste meine Unterwäsche in der Dusche waschen, aber man | |
durfte nur zwei mal pro Woche duschen. Das Handtuch muss man direkt nach | |
der Dusche wieder abgeben. Wenn du also keine Wechselkleidung hast, | |
bedeutet das, dass du deinen Pulli und deine Hose nie waschen kannst, sonst | |
müsstest du nackt sein, bis sie trocken sind. | |
Was haben Sie aus der Zeit gelernt? | |
Ich habe eine offenere Perspektive auf meine Mitmenschen entwickelt. Am | |
Anfang wollte ich mit manchen von ihnen nicht rumhängen, aber dann habe | |
mich darauf eingelassen. Draußen in Freiheit vermeiden wir meistens den | |
Kontakt zu Personen, mit denen wir wenig gemein haben. Aber dann kann man | |
die Menschen auch nicht verstehen. | |
Können Sie von einer positiven Erfahrung berichten? | |
An der Wand stand ein Satz: „When you help someone, you help yourself.“ Als | |
ich endlich Wechselkleidung bekam, habe ich sie auch unter den anderen | |
Gefangenen verteilt. Als meine Zelle nicht mehr 23 Stunden am Tag | |
geschlossen war, habe ich oft Wäsche für andere gewaschen. Man muss alles | |
per Hand waschen. Aber es hat Spaß gemacht, weil ich wusste, dass es | |
anderen hilft. Später hat ein Mann, der nie seine Wäsche waschen wollte, | |
gesagt, dass ich aufhören soll. Er hat dann angefangen, die Wäsche für | |
andere zu waschen. | |
Die Staatsanwaltschaft wirft Ihnen und Ihren vier Mitangeklagten keine | |
individuellen Gewalttaten in der Hamburger Elbchaussee vor. Sie werden | |
lediglich beschuldigt, dabei gewesen zu sein. [2][Wie blicken Sie auf den | |
Prozess zurück?] | |
Ich finde die Idee, dass wir Angeklagten die Verantwortung für die Taten | |
anderer tragen sollen, absurd. Es macht mich wütend. Ich bin auch nicht | |
einverstanden damit, dass die Staatsanwaltschaft die Demonstration mit | |
einem organisierten Überfall vergleicht. Der Staatsanwalt sagt, wenn man an | |
einem Überfall teilnimmt, aber selbst nichts beschädigt oder klaut, ist man | |
trotzdem mit schuld. Aber es geht um eine Demo gegen G20 und nicht um einen | |
organisierten Überfall. Das ist etwas ganz anderes. | |
In Ihrer Prozesserklärung haben Sie politische Kritik geäußert, statt sich | |
zu entlasten. Warum? | |
Ich wollte ehrlich sein und [3][erklären, warum ich protestiert habe]. | |
Außerdem wollte ich der Erzählung der Polizei eine andere entgegensetzen. | |
Es gab viel Polizeigewalt beim G20. Ich bin überrascht, dass das Problem | |
genauso behandelt wird wie in Frankreich: Die politische Klasse behauptet, | |
es habe keine Polizeigewalt gegeben. | |
Sind Sie enttäuscht von der Justiz? | |
Ja. Ich wusste zwar schon, dass Angehörige unterschiedlicher Klassen nicht | |
dieselbe Justiz bekommen. Im Gefängnis habe ich sehr wenig Menschen aus der | |
Mittelschicht gesehen und niemanden aus der bürgerlichen Schicht. Fast alle | |
waren arm. Das zeigt, dass man nicht wegen persönlicher Entscheidungen ins | |
Gefängnis kommt, sondern wegen seiner Klasse. | |
Sie kommen wahrscheinlich wegen Ihrer Teilnahme an einer Demonstration ins | |
Gefängnis. | |
Wenn man sich anguckt, dass es auf die zahlreichen Fälle von Polizeigewalt | |
keine juristische Antwort gibt, aber wir in den Knast sollen, obwohl uns | |
keine individuellen Gewalttaten vorgeworfen werden, ist das schon sehr | |
ungerecht. [4][Es ist eine politische Justiz]. | |
Richterin Anne Meier-Göring hat im Prozess die Polizei kritisiert. | |
Ja, sie war schon um die Wahrheitsfindung bemüht. Sie hat zumindest | |
überprüft, was die Polizist*innen gesagt haben, und sie hat die Polizei | |
kritisiert, als offensichtlich wurde, dass sie gelogen hat. In Frankreich | |
habe ich so eine Unabhängigkeit des Gerichts von der Polizei nie gesehen. | |
Trotzdem bin ich nicht einverstanden mit dem Vorwurf, auf dem der Prozess | |
basiert. | |
Was erwartet Sie, wenn Sie zurück nach Frankreich gehen? | |
Als die französische Polizei wegen G20 bei mir zu Hause war, hat sie auch | |
Dinge gesucht, die sie wegen der Proteste gegen das Atommüll-Endlager in | |
Bure gegen mich verwenden will. Deswegen habe ich keine große Lust, wieder | |
nach Frankreich zu gehen. Aktuell sitzen mehr als 800 Gelbwesten im | |
Gefängnis, die Repression ist alltäglich. Obwohl ich Deutschland nicht | |
besonders mag – ein bisschen besser ist es schon. | |
Was haben Sie zuletzt in Frankreich gearbeitet? | |
Ich habe Jura studiert, aber wegen der Proteste gegen Bure habe ich ein | |
Verbot bekommen, als Anwalt zu arbeiten. Also habe ich abgebrochen. In | |
Hamburg habe ich Garten- und Landschaftsbau gelernt. Ich möchte Gemüse | |
anbauen und in einem Permakultur-Kollektiv arbeiten. | |
Was für eine Gesellschaft wünschen Sie sich? | |
Eine, in der sich Millionen andere Gesellschaften frei entwickeln können. | |
Die kapitalistische Gesellschaft hat sich über die ganze Welt ausgebreitet | |
und andere Gesellschaftsformen weitgehend abgeschafft. Es gibt keinen Sinn | |
im Leben, wenn man nicht frei entscheiden kann, wie man lebt. Deswegen kann | |
unsere Gesellschaft auch keinen Respekt vom Einzelnen erwarten. | |
Wie erreichen wir die freie Gesellschaft? | |
Die Dynamik müsste eher Richtung kooperativer Lebens- und Arbeitsweisen | |
gehen als Richtung Ausbeutung. Wenn der Reichtum besser verteilt wäre, | |
müssten alle weniger arbeiten. Ich glaube, Städte sind nicht ideal für ein | |
freies Leben, man sollte eher kleine Gemeinschaften auf dem Land aufbauen. | |
Dafür müsste man große Grundstücke kollektivieren. | |
Der G20-Protest hat uns dieser Vision nicht näher gebracht. Stattdessen | |
kommen insgesamt viele Jahre Knast auf Linke zu. Was hat das genützt? | |
Es hat gezeigt, dass es schwierig ist, sich auf internationaler Ebene zu | |
treffen und zusammen etwas zu machen. Der Protest hat immerhin erreicht, | |
dass es keinen zweiten G20-Gipfel in Hamburg geben wird. | |
Ein sehr kleiner Erfolg. | |
Ich würde mich nicht trauen, das überhaupt einen Erfolg zu nennen. | |
Vor Corona sind [5][weltweit Massenproteste entstanden], die ohne | |
organisierte linke Strukturen auskommen. Was folgt daraus für linken | |
Protest? | |
Die Masse existiert so nicht, vielmehr gibt es eine Vielfalt von | |
Individuen. Wenn man strategisch überlegt, wie man die meisten Menschen auf | |
die Straße bringt, wird es instrumentell und man verliert die individuellen | |
Beweggründe der Menschen aus den Augen. Man sollte nicht überheblich werden | |
und diejenigen verachten, die sich nicht organisieren lassen. | |
Sind von Linken organisierte Proteste angesichts der viel größeren | |
spontanen Aufstände überholt? | |
Es kann eine gewisse Kraft geben, sich zu organisieren, und manchmal | |
erzielt man ja auch Erfolge. Aber es ist schwierig, sich zu organisieren | |
und seine Individualität zu behalten, ohne sich selbst und andere | |
auszubeuten. Ich denke, die bessere Alternative ist, sich anlassbezogen zu | |
organisieren. Das Ziel sollte immer die gemeinsame Emanzipation sein, nicht | |
die einzelne. | |
Worauf freuen Sie sich, wenn der Prozess und die Strafe überstanden sind? | |
Gemüse anzubauen, Landwirtschaft zu betreiben und Zeit mit meiner Familie | |
zu verbringen und den Menschen, die ich mag. | |
Das Interview wurde auf Französisch geführt und ins Deutsche übersetzt. | |
10 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Elbchaussee-Prozess-in-Hamburg/!5651552 | |
[2] /G20-Elbchaussee-Prozess-jetzt-oeffentlich/!5689867 | |
[3] https://eahh.noblogs.org/ | |
[4] /Rolle-der-Polizei-bei-G20-in-Hamburg/!5692769 | |
[5] /Proteste-waehrend-der-Pandemie-in-Chile/!5684411 | |
## AUTOREN | |
Katharina Schipkowski | |
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