# taz.de -- Finanzierung des Entlastungspakets: Fiktion Schuldenbremse | |
> Beim Entlastungspaket wären umfangreichere Hilfen locker möglich gewesen, | |
> würde Finanzminister Lindner nicht an seiner fixen Idee festhalten. | |
Bild: Christian Lindner bleibt bei der Schuldenbremse: Adbusting mit dem Gesich… | |
Das neue „wuchtige“ Entlastungspaket wird 65 Milliarden Euro kosten, was | |
sofort die Frage provoziert: Wo soll denn dieses viele Geld herkommen? Doch | |
die Kosten sind kein Problem. Sie finanzieren sich weitgehend selbst – und | |
zwar durch die Inflation. Wenn die Preise steigen, nimmt der Staat | |
automatisch mehr Umsatzsteuer ein. Zudem fließen höhere Lohnsteuern, wenn | |
die Gehälter zulegen, um die Geldentwertung auszugleichen. | |
Das Bundesfinanzministerium schätzt, dass die Steuereinnahmen in diesem | |
Jahr um 7,4 Prozent zunehmen werden – obwohl die Wirtschaft höchstens um 2 | |
Prozent wachsen dürfte. Der große Rest erklärt sich durch die Inflation, | |
die die Steuern sprudeln lässt. | |
Ein weiterer Effekt: Auch die Schuldenlast des Staates verringert sich, | |
wenn das Geld an Wert verliert. 2021 entsprachen die deutschen | |
Staatsschulden 69 Prozent des BIP, aktuell sind es nur noch 66,1 Prozent – | |
obwohl der Staat keinen einzigen Cent zurückgezahlt hat. Die Schulden | |
verlieren an Bedeutung, weil die steigenden Preise automatisch die | |
Wirtschaftsleistung aufblähen. | |
Auch ist es keinerlei Problem, dass der Staat Zinsen auf seine Schulden | |
zahlen muss. Auf den internationalen Finanzmärkten betrug die Rendite für | |
10-jährige Bundesanleihen am Montag ganze 1,56 Prozent. Diese niedrigen | |
Zinsen gleichen die Inflation längst nicht aus, die im Euroraum aktuell bei | |
9,1 Prozent liegt. Die Anleger sind also bereit, enorme Verluste | |
hinzunehmen, nur damit sie ihr Geld beim deutschen Staat parken dürfen. | |
Oder anders gesagt: Finanzminister Lindner bekommt sogar noch Geld | |
geschenkt, wenn er Kredite aufnimmt. Da wäre es schön blöd, eisern zu | |
sparen und die BürgerInnen in der jetzigen Krise allein zu lassen. | |
Es war daher absolut richtig, ein großes Entlastungspaket zu schnüren. Die | |
Frage ist allein, ob es „wuchtig“ genug ist – und wie sinnvoll die | |
einzelnen Maßnahmen sind. | |
Besonders umstritten war im Vorfeld, ob es eine Steuerentlastung geben | |
soll, die die „kalte Progression“ kompensiert. Damit ist der Effekt | |
gemeint, dass ein höherer Steuertarif fällig wird, obwohl das gestiegene | |
Einkommen nur die Inflation ausgleicht. Die Kaufkraft hat also nicht | |
zugenommen – aber die Steuerlast. | |
Kritiker monierten, dass von einer korrigierten Progression vor allem die | |
Wohlhabenden profitierten. Denn 70 Prozent der Entlastungen würden den | |
obersten 30 Prozent der Steuerzahler zugute kommen. Dies sei ein „Schlag | |
ins Gesicht“ der Armen, befand etwa der Sozialverband Deutschland. | |
Diese Schieflage schien bestens ins Bild zu passen: FDP-Chef Lindner | |
bedient mal wieder nur die Reichen. Denn bisher hat der Finanzminister | |
tatsächlich wenig Empathie für die Bedürftigen gezeigt und sich vor allem | |
um seine eigenen betuchten WählerInnen gekümmert. | |
Trotzdem ist es richtig, die kalte Progression zu bekämpfen und die | |
Steuersätze an die Inflation anzupassen. Würde die Geldentwertung nämlich | |
nicht berücksichtigt, würde demnächst jeder den Spitzensteuersatz zahlen – | |
auch die Armen. | |
Eine kleine Rückschau macht dies deutlich. Im Jahr 1958 wurde der heutige | |
Spitzensteuersatz von 42 Prozent für Singles bereits bei einem | |
Jahreseinkommen von ungefähr 20.000 Mark fällig. Das wären heute 10.000 | |
Euro. Inzwischen ist man mit 10.000 Euro aber nicht mehr reich – sondern | |
lebt am Existenzminimum und zahlt fast gar keine Steuern mehr. Der | |
Grundfreibetrag für Singles liegt derzeit bei 9.984 Euro, weil die „kalte | |
Progression“ regelmäßig korrigiert wurde. Lindner setzt nur fort, was | |
unausweichlich ist und alle seine Vorgänger auch schon praktiziert haben. | |
Problematisch sind vor allem zwei andere Aspekte des Entlastungspakets. | |
Erstens: Die meisten Hilfen kommen zu spät. Das erweiterte Wohngeld oder | |
der erhöhte Hartz-IV-Satz von 500 Euro sollen erst ab dem 1. Januar gelten. | |
Aber wie jeder weiß, wird es schon ab Oktober kalt, sodass sich die Frage | |
stellt, wie die potenziellen Wohngeldempfänger [1][bis zum Jahresende ihre | |
Gasrechnung bezahlen solle]n. Hartz-IV-Empfänger bekommen ihre Heizkosten | |
zwar erstattet, werden aber hart von den steigenden Lebensmittelpreisen | |
getroffen. Nun werden sie ein weiteres Vierteljahr vertröstet. | |
Zweitens werden [2][nicht alle Bedürftigen erfasst]. Es gibt eine untere | |
Mittelschicht, die sich die hohen Gaspreise nicht leisten kann – aber auch | |
künftig keinen Zugang zum Wohngeld haben wird. Eigentlich ist es gut, dass | |
die Regierung nur den ärmeren Gruppen helfen will und nicht mit der | |
berühmten „Gießkanne“ durchs Land rennt und jeden Haushalt bei den | |
Gaspreisen entlastet, weil dann auch Gutverdiener profitieren würden, die | |
ihre Heizkosten mühelos selbst stemmen können. Aber es ist politisch extrem | |
gefährlich, wenn die Hilfen nicht alle erreichen, die sie nötig hätten. | |
Diese Wut wird sich entladen. | |
Umfangreichere Hilfen waren jedoch nicht möglich, weil Lindner an der | |
Fiktion festhalten will, dass er die Schuldenbremse ab 2023 wieder | |
einhalten kann. Dabei hätte es den Staat fast nichts gekostet, zusätzliche | |
Kredite aufzunehmen. Siehe oben. Aber es gibt einen Termin, den [3][keine | |
Ampelpartei] ignorieren kann: Am 9. Oktober wird in Niedersachsen gewählt, | |
bis dahin darf das eigene Profil nicht allzu sehr leiden. Da die Umfragen | |
für die Liberalen unerfreulich ausfallen und nur 6,7 Prozent vorhersagen, | |
macht dies Lindner umso sturer, an seinem „unique selling point“ namens | |
Schuldenbremse festzuhalten. | |
Interessant ist daher, wie es nach der Niedersachsen-Wahl weitergeht. Die | |
nächsten wichtigen Landtagswahlen in Bayern und Hessen stehen erst in einem | |
Jahr an, was politischen Freiraum schafft. Und zugleich droht ein | |
explosiver Herbst, wenn die Heizperiode beginnt, die Gaspreise für die | |
Haushalte weiter steigen und zudem die Gasumlage greift. Ein viertes | |
Entlastungspaket dürfte daher bald folgen. | |
6 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
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