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# taz.de -- Filmkritikertagung in Berlin: Von sozialen Ungleichheiten erzählen
> Der Verband der Deutschen Filmkritik richtet seine „Woche der Kritik“
> erneut zur Berlinale aus. Beim Auftaktevent widmet er sich der
> Klassenfrage im Film.
Bild: Vika Kirchenbauers Film „Compassion and Inconvenience“ untersucht, wi…
In Zeiten knapper Kassen, [1][Kürzungen der Kulturförderung] und genereller
gesellschaftlicher und politischer Unruhe stellt sich auch für die
Filmkritik die Sinnfrage. Insofern passt es, dass die vom Verband der
Deutschen Filmkritik ausgerichtete [2][Woche der Kritik], die in diesem
Jahr zum 8. Mal parallel zur Berlinale stattfindet, sich der Frage widmet,
inwiefern das Kino die Vielfalt der Gesellschaft spiegelt und auch
ansonsten marginalisierten Stimmen Gehör verschafft.
Denn nicht nur im Kino gilt meist, wie es im Veranstaltungstext treffend
formuliert heißt: „Die soziale und ökonomische Herkunft bestimmt heute
immer noch die gesellschaftlichen Erfolgschancen.“ Auf wenige Bereiche der
Kultur trifft diese Feststellung so sehr zu wie auf das Kino, das gerade in
Deutschland weitestgehend frei von wirtschaftlichen Kriterien funktioniert
und [3][ohne massive Subventionen und Förderprogramme] praktisch nicht
existieren würde.
Dementsprechend beschäftigte sich die traditionelle Auftaktkonferenz der
Woche der Kritik mit dem Thema „Zurück zur Klassenfrage – Filmkultur und
soziale Ungleichheit“, eine Frage, die in einem Filmprogramm am 14. Februar
vertieft wird. Von den sogenannten sozial Schwachen und Marginalisierten
erzählt das Kino gern, gibt genau diesen Menschen aber nur selten die
Chance, selbst von und über sich zu erzählen. Stattdessen sind es oft
Filmemacher aus bürgerlichen Schichten, die nach unten schauen und sich mit
oft kaum verhohlener Faszination im Elend suhlen.
Als „Slumming“ oder „Miseryporn“ wird dies in Momenten der Selbstreflex…
bisweilen bezeichnet, und genau das ist Thema des Kurzfilmklassikers „The
Vampires of Poverty.“ Der 1977 in Kolumbien gedrehte Film von Luis Ospina
und Carlos Mayolo beschreibt in Form einer Mockumentary, einer inszenierten
Dokumentation, wie ein europäisches Dokumentarfilmteam in einer
südamerikanischen Stadt betont reißerische Szenen der Armut und des Elends
finden will und diese in Ermangelung echter Bilder auch gern einfach
inszeniert. Eine pointierte Darstellung eines Problems, dass auch heute
noch existiert und angesichts der Entwicklung der Debatte vielleicht sogar
noch aktueller geworden ist.
Im Zuge der Diskussion über Fragen der Repräsentation wird von manchen
behauptet, dass nur Vertreter einer bestimmten, meist marginalisierten
Gruppe über diese Gruppe erzählen dürfen. Was in letzter Konsequenz
bedeuten würde, dass nur ein Mensch, der aus einer sozial schwachen Schicht
stammt, einen Film über ebendiese Schicht drehen dürfte. Was angesichts der
sehr geringen Durchlässigkeit des Kulturbetriebs und besonders der
Filmbranche bedeuten würde, dass praktisch keine Filme über diese sozial
schwache Schicht gedreht werden dürften. Eine absurde Konsequenz, denn
letztlich hängt die Qualität eines Films nicht davon ab, ob die Filmemacher
exakt aus der Schicht kommen, über die sie Filme drehen, sondern mit
welcher Empathie und Wahrnehmung sie ihren Film gestalten.
Etwa der Italiener Adriano Valerio, der in seinem hybriden Dokudrama
„Casablanca“ von einem Migranten aus Marokko erzählt, der seit Jahren ohne
Aufenthaltsgenehmigung in Italien lebt und sich trotz einer Beziehung zu
einer aus der Oberschicht stammenden Frau für die Ausreise entscheidet. Auf
der Grenze zwischen Spielfilm und Dokumentation bewegt sich Valerio, filmt
seine Protagonisten mit einer gewissen Distanz und viel Würde.
Einen anderen Ansatz wählt die in Berlin lebende Künstlerin Vika
Kirchenbauer in ihrem komplexen Essayfilm „Compassion and Inconvenience“,
der der Frage nachgeht, welche Zusammenhänge es im 18. Jahrhundert zwischen
Kunst, Waisenkindern und Sklavenhaltung gab. Marginalisierte Stimmen kommen
zu Wort, auch hier entsteht die Spannung durch ein Nebeneinander von
inszenierten und dokumentarischen Momenten, die sich zu einem
augenöffnenden Blick auf ein ungewöhnliches Thema formen
Kulturförderung, deren Intention nicht in erster Linie daran lag, Kultur zu
fördern: Ein besonders zeitgemäßer Aspekt, da von manchen Seiten die
Forderung laut wird, dass Kulturinstitutionen sich verstärkt um Sponsoring
bemühen sollten, um nicht dem Steuerzahler auf der Tasche zu liegen,
sondern sich selbst zu finanzieren. Sollte dieser Ansatz Schule machen,
könnte gerade das deutsche Kino Probleme bekommen, findet ein Großteil der
deutschen Filmproduktion doch unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.
Die zahlenden Kinozuschauer für deutsche Filme sind meist marginal, allein
Filmfestivals bieten eine Plattform zum Abspiel der subventionierten Filme,
die allerdings den wenigen ohne Filmförderung entstandenen Filmen meist
auch verschlossen bleibt. Denn auch der Festivalbetrieb ist durchzogen von
freundschaftlichen Banden, Vitamin B hilft, wenn man mit seinem Film
eingeladen werden will.
Auch die Woche der Kritik ist davon nicht frei, wie der in einer
Sondervorführung präsentierte „All We Ever Wanted“ zeigt, der Debütfilm …
ehemaligen Filmkritikers und Mitbegründer der Woche der Kritik, Frédéric
Jaeger. Vielleicht eine selbstironische Programmierung, vielleicht aber
auch nur Betriebsblindheit, schließlich ist es leichter, über fraglos
wichtige Fragen wie die Durchlässigkeit des Kulturbetriebs zu diskutieren,
als selbst etwas an den festgefahrenen Strukturen zu ändern.
Die Woche der Kritik versucht sich einmal mehr an einem Spagat:
Ambitionierte, auf den ersten Blick nicht unbedingt leicht zugängliche
Filmprogramme, gefolgt von Diskussion zu komplexen Fragen. Wie sehr das
einlädt, Teil des intellektuellen Elfenbeinturms zu werden, darüber könnte
man auch ausgiebig diskutieren.
12 Feb 2025
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## AUTOREN
Michael Meyns
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