# taz.de -- Filmfestival Mannheim-Heidelberg online: Der offene Blick der Heldin | |
> Das Filmfestival Mannheim-Heidelberg zeigt online Filme der französischen | |
> Post-Nouvelle-Vague. Die sind so persönlich wie subjektiv. | |
Bild: Gegen das Kleinbürgertum: Marie (Bernadette Lafont) in „La fiancée du… | |
Die Bettszene in „Außer Atem“ (1959), Schauplatz ihr karg möbliertes Zimm… | |
irgendwo in Paris. Sie zögert, mit ihm zu schlafen. Darauf spricht er über | |
den Tod, und sie zitiert William Faulkner: „Zwischen Trauer und dem | |
Nichts, würde ich mich für die Trauer entscheiden.“ Er sei für das Nichts, | |
alles andere sei ein Kompromiss. Danach verschwinden die beiden unter der | |
Bettdecke. | |
[1][Jean-Luc Godards] Regiedebüt ist ein wahrhaftiges Spiel, Jean-Paul | |
Belmondo und [2][Jean Seberg] spielen im vollen Bewusstsein ihrer Rollen | |
den Gangster und die Femme fatale, spielen Gefühle und Liebe. 15 Jahre | |
später liegt Seberg allein im Bett. Als sie aufwacht, wird ihr Körper von | |
Weinkrämpfen geschüttelt: Auch [3][Philippe Garrels] Film „Les hautes | |
solitudes – Einsame Höhen“ (1974) ist in Schwarz-Weiß fotografiert, doch | |
anders als bei Godard handelt es sich um grobkörnige, manchmal sehr | |
unscharfe Bilder. | |
Der Film ist eine Aneinanderreihung intimer Großaufnahmen von Frauen. Mal | |
sieht man ihr Gesicht im Profil, mal blicken sie direkt ins Objektiv. | |
Manchmal sprechen sie, aber man hört sie nicht, der Film hat keinen Ton. | |
## Die Bilder haben nichts Spielerisches | |
Neben Jean Seberg ist u. a. die [4][Sängerin Nico] zu sehen. Diese Bilder | |
haben nichts Spielerisches, sie werden von keinem Narrativ | |
zusammengehalten. Die Frauen stellen sich dem Blick der Kamera, es scheint, | |
als würden sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Seberg lacht, posiert vor | |
der Kamera, flirtet mit ihr, dann wieder legt sich ein Schatten über ihr | |
Gesicht. | |
In Reinform begegnet man hier Godards Idee von Kino: Man addiert zwei | |
Bilder, und das dritte entsteht im Kopf der Betrachter*innen. Bei Garrel | |
setzt sich das jeweils dritte Bild aus der Gegenwärtigkeit emotionaler | |
Zustände – Trauer, Angst, Freude, Melancholie – zusammen, die sich | |
verstärken, überlagern und manchmal auch einander widersprechen. Manchmal | |
meint man auch, das Nichts hinter einem Lächeln zu spüren. | |
Philippe Garrel gilt als Schlüsselfigur des Post-Nouvelle-Vage-Kinos, dem | |
die diesjährige Retrospektive des Filmfestivals Mannheim-Heidelberg | |
gewidmet ist. Wie von seinen Vorgängern gefordert, sagt Garrel mit der | |
Kamera „Ich“ und treibt deren Autorentheorie mit seinen hemmungslos | |
persönlichen und schonungslos subjektiven Filmen in den Exzess. Sein Film | |
führt aufs Schönste das Konzept der Retrospektive vor Augen: das | |
ästhetische Spannungsverhältnis zwischen der Nouvelle Vague und ihren | |
Nachfolger*innen zu verdeutlichen. | |
## Bruch mit dem traditionellen Geschlechterbild | |
„Mon cœur est rouge – Mein Herz ist rot“ (1976) ist der zweite Film der | |
Modedesignerin Michèle Rosier, registriert werden die Suchbewegungen von | |
Frauen, die sich nicht länger mit dem traditionellen Geschlechterbild | |
arrangieren wollen. Auch diese Regisseurin möchte wie die Nouvelle Vague | |
mit dem Kino das Leben in seiner Lebendigkeit und Zufälligkeit entdecken | |
und erfassen. Hierfür übernimmt der Film die Lässigkeit und den offenen | |
Blick der Heldin, seine Dramaturgie ist genauso unkonventionell wie ihre | |
Reaktionen. | |
Clara arbeitet für eine Kosmetikfirma, befragt Frauen über ihr | |
Schminkverhalten und trifft auf die unterschiedlichsten Einstellungen zu | |
Ehe, Familie, Partnerschaft. Paris ist in diesem Film grau, die Stadt | |
bietet keine romantische Perspektive, doch man spürt, dass Um- und | |
Aufbruchsgefühle in der Luft liegen. | |
Etwas Neues findet auch in Claras Badewanne statt, wenn sie sich ausmalt, | |
den nackten Körper ihres Freundes von den Zehenspitzen bis zum Scheitel zu | |
filmen, und zwar in einer Länge von 90 Minuten. Bei einer ausgelassenen | |
Veranstaltung der Pariser Frauenbewegung hängen große Fotografien von | |
Künstlerinnen an den Wänden, auch die junge [5][Agnès Varda] ist dabei. | |
## Unordnung in die herrschende Ordnung bringen | |
Um eine besondere Form der Befreiung geht es in „La fiancée du pirate – Die | |
Verlobte des Piraten“ (1969) der kürzlich verstorbenen Regisseurin und | |
Schriftstellerin Nelly Kaplan. Darin verhext eine junge Frau ihre Umgebung | |
und einen ganzen Film, bringt Unordnung in die herrschende Ordnung. | |
Als ihre Mutter stirbt, die im Dorf von allen als Außenseiterin | |
diskriminiert wurde, wird Marie (Bernadette Lafont) von ihrer Umgebung als | |
erotisches Freiwild gejagt. Doch setzt sie dem machistisch geprägten | |
Kleinbürgertum ihre eigene fantastische Machtentfaltung entgegen. | |
„Damit sie sauber sind“, sagt Juliet Berto als Politaktivistin in Jean-Luc | |
Godards Film „La Chinoise“ (1967) auf die Frage, weshalb sie Teller | |
abwasche. Und fügt noch hinzu: „Frankreich im Jahr 1967, das ist wie ein | |
schmutziger Teller.“ Vierzehn Jahre später, in „Neige – Schnee“ (1981), | |
steht Berto vor und hinter der Kamera (Co-Regie Jean Henri Roger) und spült | |
Gläser hinter der Theke einer Bar. Sie ist immer noch eine Aktivistin, | |
jedoch ohne theoretischen Überbau. Ihre Figur will den Mord an einem jungen | |
schwarzen Drogendealer rächen. | |
„Neige“ spielt im Norden von Paris, meist bei Nacht. Seine Figuren sind | |
Transfrauen und -männer, sind afrikanische Migranten und weiße Frauen und | |
Männer, die zwischen Bars und Boulevards in den Tag hineinleben. Es ist ein | |
Film, der Genre spielt, mit Verfolgungsjagden durch das Billigkaufhaus | |
Tati, afrofranzösische Musikgeschäfte und arabische Läden. Es scheint, | |
als sei er auf der Straße gefunden worden, wo er en passant die Stimmung | |
und Lebensgefühle eines Pariser Quartiers einfängt. | |
Es ist eine Freude, dabei zuzusehen, wie die Regisseur*innen der | |
Retrospektive in den Dialog mit den Filmen der Nouvelle-Vague-Regisseure | |
treten. Gerade weil sie wissen, dass jedes Bild ein Vor-Bild hat, können | |
sie sich in die Gegenwart stürzen. | |
18 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Spaetwerk-von-Jean-Luc-Godard/!5582241 | |
[2] /Spielfilm-Jean-Seberg-im-Kino/!5709937 | |
[3] /Le-sel-des-larmes-bei-der-Berlinale/!5664766 | |
[4] /Biopic-ueber-Popikone-Nico/!5518233 | |
[5] /Nachruf-Filmemacherin-Agnes-Varda/!5581833 | |
## AUTOREN | |
Anke Leweke | |
## TAGS | |
Filmfestival | |
Streaming | |
Französisches Kino | |
Nouvelle Vague | |
Schauspieler | |
Nachruf | |
Filmfestival Venedig | |
Frauenförderung | |
Hollywood | |
Französischer Film | |
Jean-Luc Godard | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Zum Tod von Jean-Paul Belmondo: Furchtlose Großartigkeit | |
Er ließ den gefühllosen Macho-Protagonisten der 50er- und 60er-Jahre hinter | |
sich. Nun ist der französische Schauspieler Jean-Paul Belmondo gestorben. | |
Französischer Schauspieler gestorben: Jean-Paul Belmondo ist tot | |
Der französische Schauspielstar starb mit 88 Jahren in Paris. Bekannt wurde | |
er unter anderem durch den französischen Gangsterfilm „Außer Atem“. | |
„Pieces of a Woman“ auf Netflix: Die Heldin bewegt sich vorwärts | |
Im Spielfilm „Pieces of a Woman“ von Kornél Mundruczó spielt Vanessa Kirby | |
mit unorthodoxer Energie eine trauernde Frau. | |
Frauenförderung bei Arte: Sieben bis zwölf Minuten Quote | |
Der Fernsehsender Arte wollte Frauen fördern und schrieb einen | |
Kurzfilmwettbewerb aus. Schiefgelaufen ist dabei mehr als nur das Motto. | |
Spielfilm „Jean Seberg“ im Kino: Ein Star im Visier des FBI | |
Der Spielfilm „Jean Seberg“ mit Kristen Stewart erzählt vom Engagement der | |
Schauspielerin für die Black Panthers. Er setzt auf die Kraft der Dialoge. | |
„Le sel des larmes“ bei der Berlinale: Arschloch-Moves inbegriffen | |
Männliches Liebesleiden ist das große Thema in Philippe Garrels Filmen. | |
Auch in seinem neuen Werk wird Liebe mit großem L geschrieben. | |
Spätwerk von Jean-Luc Godard: Aus tausend Fäden vernäht | |
„Bildbuch“, ein Essayfilm von Jean-Luc Godard, ist aus Fragmenten und | |
Bruchstücken zusammengebaut. Ein Bild-, Sprach- und Musikwirbel. |