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# taz.de -- Expertin über Krieg und Geschlecht: „Nicht alle Männer sind Kä…
> Frauen fliehen, Männer vergewaltigen? Die ukrainische Genderforscherin
> Marta Havryshko spricht über Geschlechterrollen im Krieg.
Bild: Freiwillige bereiten Varenyky, gefüllte Teigtaschen, in einem Theater in…
taz: Frau Havryshko, es scheint, als ob der Krieg gegen die Ukraine
Geschlechterrollen um Jahrzehnte zurückwirft. Männer kämpfen und werden zu
Helden stilisiert, Frauen und Kinder fliehen. Stimmt dieser Eindruck?
Marta Havryshko: Offiziellen Zahlen der Vereinten Nationen zufolge sind
fast 90 Prozent derjenigen, die aus der Ukraine geflohen sind, Frauen und
Kinder. In dieser Hinsicht stimmt das also. Aber natürlich sind nicht alle
Männer von Natur aus heroische Kämpfer. Viele würden gern fliehen, viele
wollen bei ihren Familien und in Sicherheit sein. Es ist eben verboten.
Der Eindruck traditioneller Geschlechterrollen entsteht durch die
Entscheidung Selenskis?
Auch. Diejenigen Männer, die laut sagen, dass es allen Menschen erlaubt
sein sollte, zu fliehen, sind in der Ukraine harscher Kritik ausgesetzt.
Sie ist gespickt mit Geschlechterstereotypen: Echte Männer sind an der
Front, du bist kein echter Mann. Der hegemoniale Diskurs unterminiert ihre
Maskulinität, wenige stellen das in Frage. Niemand fragt Frauen, warum sie
nicht bei den Streitkräften sind. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die
Ukraine allerdings kaum von anderen Ländern. Das ist globale patriarchale
Kultur.
Haben sich durch den Krieg auch Geschlechterrollen verändert?
Die haben sich durch den Krieg schon in den vergangenen acht Jahren
deutlich verändert, im nichtmilitärischen wie im militärischen Bereich. Bis
2014, 2015 galten zum Teil noch alte sowjetische Gesetze. Frauen durften
bis dahin zum Beispiel nicht als Metrofahrerinnen, Tischlerinnen oder in
der Kohleindustrie arbeiten. Fast 500 bis dahin verbotene Berufe wurden
dann für Frauen geöffnet. Das war ein immenser Fortschritt.
Und im militärischen Bereich?
Nach der Annexion der Krim 2014 hat sich die Zahl der Frauen in den
ukrainischen Streitkräften verdoppelt. 2013 waren es knapp 17.000, heute
sind es rund 33.000. Viele waren Lehrerinnen, Erzieherinnen, Hausfrauen.
Diese Frauen hatten nie zuvor Waffen in der Hand, plötzlich traten sie der
Armee bei.
Warum?
Nach dem Euromaidan kam ein immenser patriotischer Aufschwung. Auf einmal
waren viele Frauen überzeugt, dass ihr Platz nicht bei ihren Kindern zu
Hause ist, sondern an der Front, um ihr Land zu verteidigen. Die rund 15
Prozent Frauen, die heute in der ukrainischen Armee sind, sind vergleichbar
mit gut entwickelten Armeen anderer Länder. Deutschland hat sogar weniger.
Die Armee ist für ukrainische Frauen ein attraktiver Arbeitsmarkt geworden.
Gleichzeitig betrachten manche Frauen die Armee als einen Ort, an dem
Geschlechterrollen herausgefordert werden können.
Inwiefern?
Die Frauen werden Teil patriarchaler Strukturen und brechen sie
gleichzeitig auf. Sie zeigen, dass auch Frauen gute Soldatinnen sein
können. Weibliche Sniper sind unter den – ich nutze das Wort ungern –
erfolgreichsten ukrainischen Snipern überhaupt. Für einige ist das eine
Form von Empowerment. Andere engagieren sich in gewissermaßen
traditionellen Bereichen wie Care.
In der kulturellen Repräsentanz des Krieges tendieren wir dazu, Frauen als
Opfer zu sehen. Aber viele Frauen organisieren sich, kochen Wareniki oder
Borschtsch und bringen das Essen an die Front. Andere treffen sich in
Schulen und knüpfen Camouflagenetze.
Es gibt bereits Berichte über sexualisierte Kriegsgewalt. Welche Rolle
spielt das Thema in der Ukraine?
Anfang April wurden Aufnahmen von 15 Soldatinnen veröffentlicht, die aus
russischer Gefangenschaft entlassen worden waren. Ihre Köpfe waren
geschoren worden, um sie zu demütigen.
Sie sahen trotzdem nicht demütig aus, eher stolz.
Ja, aber sie haben berichtet, dass sie sich während der russischen
Befragungen nackt ausziehen mussten. Wir kennen viele solcher Geschichten
von 2014 und 2015, als Soldatinnen im Donbass gefangen genommen wurden. Die
meisten hatten sexualisierte Gewalt überlebt. Viele Soldatinnen sind
deshalb bereit, Suizid zu begehen, um nicht in Gefangenschaft zu geraten.
Auch von Zivilistinnen gibt es Berichte über Vergewaltigungen durch
russische Soldaten.
Sexualisierte Gewalt ist eine enorm gegenderte Dimension des Kriegs – nicht
nur gegenüber Frauen. Nach 2014 gab es Berichte von Human Rights Watch,
dass ukrainische Männer in Gefangenschaft kastriert worden waren.
Nichtsdestotrotz erleben vor allem Mädchen und Frauen sexualisierte Gewalt,
die im Krieg bewusst als Waffe eingesetzt wird, um zu terrorisieren und zu
demütigen.
Es gibt bereits viele Berichte, dass Mädchen vergewaltigt wurden, manche
jünger als zehn Jahre, zum Teil vor den Augen ihrer Familien. Ihre Vaginen
waren zerfetzt. Da kommen immense Traumata auf uns zu. Viele Überlebende
werden darüber schweigen, weil sexualisierte Gewalt noch immer schambesetzt
und stigmatisiert ist. Manche Männer akzeptieren keine vergewaltigten
Frauen mehr. Also behalten sie es lieber für sich.
Was tun?
Wir müssen diese Fälle dokumentieren, um die Täter irgendwann zur
Rechenschaft zu ziehen. Sexualisierte Kriegsgewalt signalisiert: Ihr könnt
„eure“ Frauen und Kinder nicht schützen. Das ist Kommunikation von Mann zu
Mann.
Obwohl die Vizepräsidentin der Ukraine eine Frau ist, bestehen die
derzeitigen Verhandlungsdelegationen ausschließlich aus Männern. Längst ist
klar, dass stabilere Abkommen aus gemischtgeschlechtlichen Teams bestehen.
Warum spielen Frauen in dieser Hinsicht keine Rolle?
Das spiegelt schlicht das Problem fehlender Geschlechtergleichheit in der
Ukraine. Das Land hat in den vergangenen Jahren enorme Fortschritte in
Bezug auf Menschenrechte gemacht, es herrscht Meinungsfreiheit, wir
arbeiten an Diversität. Aber die Ukraine ist noch keine vollständig
funktionierende Demokratie und es ist Teil des großen Ganzen, dass es
generell nicht viele ukrainische Politikerinnen gibt. Fast 80 Prozent der
Parlamentsabgeordneten sind Männer.
Auch die weitaus meisten in den Medien zitierten Experten sind Männer, die
meisten Führungspositionen werden von Männern besetzt. Unser Präsident hat
als Comedian unter anderem auf sexistische Witze gesetzt.
Wie gibt er sich in dieser Hinsicht heute?
Er spricht nun zumindest täglich ukrainische Frauen direkt an, auch
ukrainische Soldatinnen. Sie verlieren Gliedmaßen wie Männer, sie werden
getötet wie Männer. Selenski hat erkannt, dass wir kein freies,
demokratisches Land sein, Frauen aber weiter unsichtbar machen können.
Immerhin ist die Vizepräsidentin übrigens innerhalb der Ukraine momentan
sehr präsent. Aber natürlich ist es ein Problem, dass die Expertise von
Frauen in den Verhandlungen fehlt.
Gibt es noch feministische Initiativen vor Ort?
Ja, diese Initiativen waren und sind sehr aktiv. Es waren Feministinnen,
durch deren Kämpfe die angesprochenen Gesetzesänderungen in Gang kamen.
Women’s Perspectives zum Beispiel, eine Initiative aus Lviv, arbeitet seit
20 Jahren gegen häusliche Gewalt. Jetzt organisieren sie Schutzräume für
Frauen, die die umkämpften Gebiete verlassen. Manche sind mit Neugeborenen
unterwegs, manche haben Behinderungen. Viele Initiativen dokumentieren
jetzt sexualisierte Gewalt, organisieren Hygieneprodukte, machen
Medienarbeit oder drucken Flugblätter.
Flugblätter?
Um Frauen vorzubereiten, die ankommen. Geflüchtete Frauen laufen derzeit
Gefahr, Opfer von Menschenhandel zu werden. Da braucht es einfach
zugängliche Information über die drängendsten Gefahren. Bei meiner Flucht
haben Männer an der polnischen Grenze nach jungen, schönen Frauen Ausschau
gehalten, um ihnen vorgeblich Unterkünfte anzubieten. Da ist dann schon die
Frage: Warum ausgerechnet junge Frauen?
Und auch nach der Flucht gibt es diese Gefahren. Viele, die nicht gut
ausgebildet sind, werden schlecht bezahlte Jobs machen müssen, legal oder
illegal putzen. Manchen droht Prostitution. Wer kein Geld hat, nimmt jeden
Job.
Wie diskutieren feministische Initiativen den Krieg?
In der Ukraine gibt es schon länger einen Konflikt zwischen Nationalismus
und Feminismus. Manche Feministinnen haben sich für die Militarisierung der
vergangenen Jahre eingesetzt. Ich kann verstehen, dass sie nötig war und
ist, um zu überleben. Trotzdem habe ich sie nie unterstützt.
Stattdessen habe ich zum Beispiel auf sexualisierte Gewalt innerhalb des
ukrainischen Militärs aufmerksam gemacht. Darüber wollte niemand reden. Der
Vorwurf war, das leiste Putins Propaganda Vorschub. Aber ich will, dass
Frauen es besser haben. Diese Widersprüche sind nicht einfach zu lösen.
Was wäre Ihr Vorschlag?
Ich glaube daran, dass wir Widersprüche benennen müssen. Dass wir weiter
auf unbequeme oder schmerzhafte Konflikte aufmerksam machen, dass wir
Geschlechterrollen thematisieren müssen. Wir können nicht damit aufhören,
weil Krieg ist. Es geht darum, ob die Ukraine ein freies, demokratisches
Land wird, das Menschenrechte achtet. Es geht um unsere Zukunft.
Aus dem Englischen Patricia Hecht
13 Apr 2022
## AUTOREN
Patricia Hecht
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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