# taz.de -- Sexualisierte Gewalt in Konflikten: Verschwiegenes Leid | |
> Ein Rohingya wird von Soldaten vergewaltigt, ein Syrer im Gefängnis | |
> sexuell misshandelt. Mit den traumatischen Erfahrungen werden sie allein | |
> gelassen. | |
Wenn er sitzt, kommt immer irgendwann auch der Schmerz zurück. Er | |
transportiert Nurul Islam zurück in eine Zeit, die er gerne für immer | |
vergessen würde. Vor vier Jahren wurde der Rohingya von myanmarischen | |
Soldaten vergewaltigt. „Sie haben es auch mit Männern gemacht“, sagt er und | |
starrt auf den Boden der Bambus-Hütte, in der die taz ihn vor zwei Jahren | |
zum ersten Mal traf. „Aber niemand spricht darüber, aus Scham.“ | |
Nurul ist eines von zahllosen Opfern sexueller Gewalt, die heute in | |
Flüchtlingslagern in Bangladesch ihr Dasein fristen. Myanmars Militär ist | |
seit Jahrzehnten berüchtigt dafür, Minderheiten mit sexueller Gewalt zu | |
terrorisieren. Auch [1][seit dem Militärputsch im Februar] schreckt die | |
Armee in ihren Foltergefängnissen nicht davor zurück. | |
„Wie ein Hund musste ich knien“, sagt Nurul. Um ihn herum bedecken schwarze | |
Planen die Hütte, in der er sitzt. „Es waren zu viele Soldaten, ich konnte | |
mich nicht wehren.“ Dann wurde er ohnmächtig. Als er wieder zu sich kam, | |
trugen ihn zwei junge Männer Richtung Bangladesch. Nurul war damals einer | |
von fast 800.000 Menschen, die 2017 innerhalb weniger Wochen vor der Gewalt | |
des Militärs, das die Rohingya jahrzehntelang verfolgt hatte, über die | |
Grenze nach Bangladesch geflohen sind. Während Vergewaltigungen von | |
Rohingya-Frauen bekanntermaßen weit verbreitet waren, sprach über Männer | |
wie Nurul – wie in so vielen Konflikten auf der Welt – niemand. | |
Die UNO-Sonderbeauftragte für sexuelle Gewalt in Konflikten stellte 2013 in | |
einem Bericht fest, dass sexualisierte Gewalt oft als Frauenthema | |
betrachtet werde. Dabei seien die „Unterschiede zwischen dem Ausmaß | |
sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Männer in Konflikten selten so | |
dramatisch, wie allgemein erwartet wird.“ Im Laufe einer Woche hat die taz | |
mit 21 Rohingya in den Flüchtlingslagern sprechen können. Sie waren | |
entweder selbst Opfer, haben sexualisierte Gewalt gegen andere | |
Rohingya-Männer beobachtet oder kennen Opfer. | |
Ein UN-Bericht kommt zu dem Schluss, dass die Rohingya sexualisierte Gewalt | |
in einem solchen Ausmaß erfahren haben, dass sie als Bestandteil der | |
Völkermordkampagne betrachtet werden muss. Es ist die Rede von „der | |
systematischen Auswahl von Frauen und Mädchen im zeugungsfähigen Alter für | |
Vergewaltigungen, Angriffe auf schwangere Frauen sowie Babys, Verstümmelung | |
von Fortpflanzungsorganen sowie die Brandmarkung von Körpern durch | |
Bisswunden“. | |
„Solange ihr in unserem Land lebt, werden wir euch so behandeln“, sagten | |
die Soldaten zu Nurul. Er kann sich an drei von ihnen erinnern. Zuerst | |
penetrierten sie ihn mit einem Stock, dann mit einem gekochten Ei und am | |
Ende mit ihren eigenen Körpern. Er betete, dass es bald vorbei sei. „Immer | |
wenn ich mich daran erinnere, fühle ich mich wie tot“, sagt er. Erst als | |
der Kommandierende befahl, an einen anderen Ort weiterzuziehen, ließen die | |
Soldaten von ihm ab. „Sonst wären wir jetzt alle nicht mehr am Leben“, sagt | |
Nurul. Er verlor bei der Gewalt seinen Vater und seine beiden Söhne. Über | |
seine Vergewaltigung hat der Rohingya noch kaum mit irgendjemandem | |
gesprochen. | |
Nurul weiß mittlerweile, dass ihm sexuelle Gewalt widerfahren ist. Anderen | |
Männer ist das oft nicht bewusst. Sarah Chynoweth leitet den Bereich | |
„Sexuelle Gewalt“ bei der Women’s Refugee Commission, einem humanitären | |
Thinktank. Die Deutschamerikanerin hat in verschiedenen Ländern zu | |
sexueller Gewalt gegen Männer geforscht. Für sie ist entscheidend, wie nach | |
sexueller Gewalt gefragt wird. Als Chynoweth Rohingya-Flüchtlinge fragte, | |
ob sie Männer kennen, die vergewaltigt worden sind oder sexuellen | |
Missbrauch erfahren haben, sagten die meisten zunächst nein. | |
Als sie die Worte „Vergewaltigung“ und „sexuell“ wegließ und stattdess… | |
fragte, ob es zu „Folter an den Genitalien“ gekommen sei, fingen die Männer | |
an zu reden. „Viele Männer haben keine Ahnung davon, dass sie | |
sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren“, sagt sie. Dasselbe gelte leider | |
für viele Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, die nach wie vor überfordert | |
seien, wenn plötzlich ein Mann vor ihnen steht, der sagt, er sei | |
vergewaltigt worden. „Es gibt einen so großen Mangel an Bewusstsein“, | |
bedauert Chynoweth. | |
Weil die Opfer nicht darüber sprechen, gibt es nicht genug spezielle | |
Hilfsangebote. Und weil es nicht genügend Hilfsangebote gibt, kommen die | |
Männer nicht auf die Idee, darüber zu sprechen. Weil niemand darüber | |
spricht, gibt es wiederum keine Daten, die einen Bedarf suggerieren. Ein | |
Teufelskreis. Dabei gibt es Guidelines, denen sich mehrere | |
Hilfsorganisationen, darunter auch UNO-Agenturen, verschrieben haben. Diese | |
sehen nicht vor, dass es Statistiken geben muss, bevor Hilfsangebote | |
gerechtfertigt sind. „Es ist falsch, das Angebot am Bewusstsein für das | |
Problem auszurichten“, sagt Chynoweth. | |
Seitdem Nurul in seinem Camp zu einem sogenannten Majhi ernannt worden ist, | |
einer Verbindungsperson zwischen der Campverwaltung und den Flüchtlingen, | |
fühlt er sich besser. Er hat jetzt Verantwortung, trägt statt T-Shirts | |
Hemden und ist stets mit seinem Telefon in der Hand anzutreffen. Aber | |
seinem Körper geht es immer noch nicht gut. Er hat zum Beispiel Probleme, | |
wenn er zur Toilette geht. Die taz hat Nuruls Kontaktdaten im vergangenen | |
Jahr mit seiner Einwilligung an eine Organisation weitergegeben, die sich | |
um männliche Vergewaltigungsopfer kümmert. Er sagt, dass er bis heute keine | |
Unterstützung erfahren hat. Ein humanitärer Helfer im Camp empfahl ihm | |
stattdessen, sich öfter mal in den Kinderzentren im Camp aufzuhalten. | |
Vielleicht würde ihn das aufmuntern. | |
Dabei haben Männer wie Nurul oft ernsthafte medizinische Probleme. Suhail | |
Abualsameed ist freiberuflicher Berater und lebt in Amman in Jordanien. Er | |
klärt in Krisenregionen weltweit über sexuelle Gewalt gegen Männer auf. In | |
Bangladesch hat er 25 Rohingyas in den Flüchtlingscamps dazu trainiert, | |
männliche Opfer ausfindig zu machen, um ihnen aktiv Hilfe anzubieten. Das | |
Team fand einen Betroffenen, der bereits mehrere Jahre lang mit inneren | |
Blutungen kämpfte. Doch die Hilfe kam zu spät. Kurze Zeit nachdem sie ihn | |
fanden, war der Mann tot. „Er hat sich die ganze Zeit geschämt, sich | |
irgendjemandem anzuvertrauen“, sagt Abualsameed resigniert. | |
Die Rohingya-Krise hätte eine Chance sein können, das Thema sexuelle Gewalt | |
gegen Männer zu enttabuisieren. Eine Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation, | |
die keine Erlaubnis hat, mit den Medien zu sprechen und deshalb anonym | |
bleiben will, erinnert sich an die frühen Tage der Krise in Cox’s Bazar, | |
als auf der anderen Seite des Grenzflusses noch dunkle Rauchwolken über den | |
niedergebrannten Rohingya-Dörfern in den Himmel stiegen. Bei Gesprächen mit | |
neu ankommenden Flüchtlingen zu sexueller Gewalt sei oftmals die Frage | |
aufgekommen, wieso nur nach Frauen, nicht aber nach Männern gefragt werde. | |
„Wir haben wieder eine Gelegenheit verpasst, endlich darüber zu sprechen“, | |
sagt sie. | |
Das ist umso tragischer, weil es in anderen kulturellen Kontexten noch | |
schwieriger ist. Sexuelle Gewalt gegen Männer war ein Teil [2][der Kampagne | |
des Assad-Regimes gegen die syrische Bevölkerung]. Das Stigma sei massiv, | |
so Omar Shanabo, Jordanien-Direktor von der Union of Medical Care and | |
Relief Organizations, einer internationalen Hilfsorganisation. „Wir können | |
niemandem helfen, der keine Hilfe will“, sagt der Syrer. | |
Opfer sexueller Gewalt würden im Nahen Osten nicht nur von der | |
Gesellschaft, sondern teilweise selbst von ihren Familien derart | |
stigmatisiert, dass sie auswandern müssten. Dass es um Gewalt im Rahmen | |
eines Konflikts geht und das syrische Regime mit perfiden Taktiken wie | |
Vergewaltigungen genau darauf abziele, soziale Bande zu zerstören, mache | |
kaum einen Unterschied. „Die Leute können sich nicht vorstellen, dass auch | |
Männer vergewaltigt werden können. Als Mann wird von dir erwartet, dass du | |
dich verteidigen kannst“, so Shanabo. | |
Diese Vorurteile kennt auch Ali Mansour (Name geändert). In einem | |
Militärgefängnis drei Stockwerke unter der Erde hielt der syrische | |
Geheimdienst ihn fest. Es war so finster, dass er von den anderen Insassen | |
nur Schreie hörte. Der Syrer vertrieb Satellitenschüsseln, das machte ihn | |
für das Regime verdächtig. Es hielt ihn für einen Informanten. „Ich habe | |
kein Haus mehr, keine Ehre und ich kann keine Kinder mehr zeugen“, sagt | |
Ali. Er war im Gefängnis sexueller Gewalt ausgesetzt. Mehrfach haben ihn | |
Sicherheitskräfte an den Genitalien gefoltert. Sie haben ihn außerdem | |
gezwungen, Viagra zu schlucken und von ihm verlangt, Geschlechtsverkehr mit | |
einem Hund zu haben, erzählt er. „Es war eine große Tragödie für mich“, | |
sagt der Muslim. „Wenn es in meiner Religion nicht verboten wäre, dann | |
hätte ich vielleicht Selbstmord begangen.“ | |
Auch jetzt im Flüchtlingslager in Jordanien lasse ihn die Angst nicht los. | |
Er war bereit, sich mit seinem Trauma und den Verletzungen helfen zu | |
lassen. „Jedes Mal wenn ich von einer neuen Möglichkeit hörte, habe ich | |
versucht, mehr herauszufinden.“ Einmal ist er sogar aus seinem | |
Flüchtlingslager in Jordanien in die Hauptstadt Amman gefahren, um auf | |
eigene Kosten einen Psychologen zu konsultieren. Auf Dauer allerdings | |
konnte er sich das nicht leisten. | |
Alexandra Chen, eine Arabisch sprechende Psychologin aus Hongkong, die mit | |
Flüchtlingen aus dem Nahen Osten arbeitet, plädiert dafür, es den Opfern so | |
einfach wie möglich zu machen, sich zu öffnen. Wenn Flüchtlinge etwa nach | |
einem Ganzkörper-Check verlangten, dann heiße das oft, dass die betroffene | |
Person auf HIV oder sexuell übertragbare Krankheiten untersucht werden | |
wolle, ohne die sexuelle Gewalt zwangsläufig besprechen zu wollen. | |
Mitarbeiter von Hilfsorganisationen müssten besser trainiert werden, solche | |
Signale zu erkennen. | |
„Wenn der Angriff auf die mentale Gesundheit von Menschen so drastisch war, | |
dann muss im Gegenzug genauso viel Disziplin und Geduld aufgebracht werden, | |
um ihnen da wieder rauszuhelfen“, sagt Chen. Der Zeitpunkt und der Ort | |
dafür müssten passen. Oft würden die Betroffenen sich dann öffnen, wenn sie | |
sich nicht mehr um dringende Bedürfnisse wie Hunger oder ein Dach über dem | |
Kopf kümmern müssten. Viele ihrer syrischen Patienten zum Beispiel lebten | |
in Deutschland. Ihre Heilung sei möglich. Oft reichten schon ein halbes | |
Dutzend Therapiesitzungen, um den Männern zurück in ein einigermaßen | |
normales Leben zu helfen. Einer von Chens ersten Patienten hat kürzlich ein | |
Kind bekommen. „Lange Zeit konnte er nicht einmal darüber nachdenken, Sex | |
zu haben“, erinnert sie sich. | |
Die Psychologin hofft, dass es in Zukunft mehr Bewusstsein und Anerkennung | |
für die Probleme und Bedürfnisse von männlichen Missbrauchsopfern geben | |
wird. Anzeichen dafür gibt es: 2019 erkannte eine Resolution des | |
UN-Sicherheitsrats an, dass sexualisierte Gewalt in Konflikten auch auf | |
Männer und Jungen abzielt. Human Rights Watch nannte es damals „einen | |
wichtigen Schritt, um die Tabus zu Fall zu bringen, die Männer davon | |
abhalten, ihre Erfahrungen zu schildern, und dazu beitragen, dass Opfer | |
nicht die Hilfe bekommen, die ihnen zusteht.“ | |
In Myanmar sind vier Jahre nach der Vertreibung der Rohingya und seit einem | |
Putsch des Militärs gegen die demokratisch gewählte Regierung im Februar | |
die Gefängnisse wieder voll mit Oppositionellen. In den | |
Minderheitenregionen kommt es zu Luftangriffen. Humanitäre Hilfe wird von | |
Soldaten blockiert und sogar Kinder landen im Gefängnis. Und wieder bedient | |
sich das Militär auch sexueller Gewalt gegen seinen Feind, das eigene Volk. | |
Menschenrechtler und Journalisten dokumentieren die Fälle akribisch: | |
Frauen, Homosexuelle und Transpersonen seien in den Haftanstalten, so wie | |
die Rohingya und viele andere Minderheitengruppen zuvor, regelmäßig | |
Missbrauch ausgesetzt. Doch wieder hat nach einer Gruppe von Opfern bisher | |
niemand gefragt: den Männern. | |
Diese Geschichte wurde durch die Unterstützung des European Journalism | |
Center ermöglicht. | |
17 Dec 2021 | |
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Verena Hölzl | |
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