# taz.de -- Ex-Spiegel-Reporter Relotius: Schreiben als Selbstbetrug | |
> Ex-Journalist Claas Relotius hat seine Reportagen zum Teil frei erfunden. | |
> Jetzt begründet er es mit seiner psychischen Krankheit. Ist das | |
> glaubwürdig? | |
Bild: Claas Relotius hat erstmals über seine gefälschten Texte gesprochen | |
„Ich log und log – und dann log ich noch mehr.“ So einfach war das also. | |
Der Journalist, der damit ein renommiertes Blatt in eine mittlere | |
Existenzkrise stürzte, packt aus. Beruflicher Stress im Newsroom des | |
legendären Titels, Schreibsucht und eine psychische Krankheit hätten ihn | |
dazu gebracht, systematisch und über Jahre hinweg Zitate, Interviews, | |
atmosphärisch dichte Beschreibungen aus vielen Versatzstücken | |
zusammenzufassen – [1][oder gleich ganz zu erfinden.] | |
Nein, die Rede ist hier nicht von Claas Relotius und dem Skandal beim | |
Spiegel vor drei Jahren. Sondern von Jayson Blair, der 2003 bei der New | |
York Times aufflog. „Ich war schließlich nicht der Erste, der […] bei der | |
New York Times verrückt geworden ist“, schrieb Blair später im | |
Enthüllungsbuch in eigener Sache über seinen Fall. | |
Es ist frappierend, wie ähnlich sich die Erklärungen in beiden Fällen sind. | |
„Ich hatte nicht mehr das Gefühl, eine Grenze zu überschreiten“, ist das | |
[2][Interview mit Relotius im Schweizer Magazin] Reportagen betitelt. Auch | |
für diese Zeitschrift, der er nun das erste große Interview in eigener | |
Sache gab, hatte Relotius gearbeitet. Bei vier seiner fünf Beiträge fand | |
die Redaktion nach eigenen Angaben später „Ungenauigkeiten, fehlerhafte | |
Beschreibungen, faktische Fehler“ und, schweizerisch fein formuliert, | |
„Imaginationen“. | |
Dabei hatte Relotius’ Karriere durch seine freie Mitarbeit bei Reportagen | |
den entscheidenden Schub bekommen. Mit einem Text für das Magazin gewann er | |
2013 den Deutschen Reporterpreis. Das brachte viel Aufmerksamkeit. Nach | |
diversen Beiträgen für renommierte Titel von der Neuen Zürcher Zeitung bis | |
zur FAZ folgte schließlich 2017 die Festanstellung als Reporter beim | |
Spiegel. | |
## Schonungslose Selbstkritik | |
Im 26 Seiten langen Interview schildert Relotius, wie das Schreiben | |
therapeutisch war. „Das hemmungslose Schreiben hatte für mich eine ganz | |
egoistische Funktion. Es hat mir geholfen, Zustände, in denen ich den Bezug | |
zur Realität verloren habe, zu bewältigen, zu kontrollieren und von mir | |
fernzuhalten. Schon lange vor dem Journalismus. Ich habe diesen Beruf auf | |
eine Art von Anfang an missbraucht.“ | |
Schonungslos berichtet Relotius von Denk- und Wahrnehmungsstörungen, die er | |
schon vor der Zeit beim Spiegel hatte. „In meinem Alltag waren die Grenzen | |
über Monate verschwommen. Die Grenze in einem Text war für mich in dieser | |
Zeit nicht existent. Ich habe das Schreiben benutzt, um wieder Klarheit zu | |
bekommen. Später habe ich mich nicht gefragt, ob wirklich alles so gewesen | |
ist. Ich habe meinen Text in der Zeitung gesehen, mich daran festgehalten | |
und hochgezogen, mich normal gefühlt. Ich hatte es ja hinbekommen, einen | |
Text zu schreiben, der in der Zeitung stand.“ | |
Das bedeutet Schreiben als Therapie und Selbstbetrug. Am Ende ergibt sich | |
eine Art sich selbst erfüllende Prophezeiung, bei der der Fälscher an die | |
Echtheit seines Werkes glaubt, weil es da schwarz auf weiß steht. Auf die | |
Frage, wie viele seiner Texte überhaupt korrekt waren, sagt er heute: „Nach | |
allem, was ich heute über mich weiß, wahrscheinlich die allerwenigsten.“ | |
Das könnte nach Koketterie klingen. Zumal er betont, er habe zu keiner Zeit | |
seiner journalistischen Tätigkeit auch nur ansatzweise Karriereambitionen | |
gehabt. | |
Eben das warf ihm Spiegel-Reporter Juan Moreno vor, der 2019 seine Sicht | |
der Dinge im Buch „Tausend Zeilen Lüge“ veröffentlichte. Auch wenn Reloti… | |
2019 zunächst mit einem Anwaltsschreiben gegen Moreno vorgegangen war, wird | |
die juristische Auseinandersetzung wohl nicht weitergehen. | |
## Eskapistisches Schreiben | |
Er habe sich „nicht in der Position gesehen, jemanden zu verklagen, ohne | |
mich selbst meiner viel größeren Schuld zu stellen“, so Relotious: „Ich | |
habe den Menschen, den ich am meisten liebe, leiden sehen und trotzdem an | |
meiner Realität festgehalten, um nicht an mir zweifeln zu müssen. Genau so | |
habe ich mich Jahre später auch gegenüber Juan Moreno verhalten, als dieser | |
alles aufdeckte und zeitweise wohl auch an seinem Verstand zweifeln musste, | |
weil ich unerbittlich an etwas festgehalten habe.“ | |
[3][Relotius’ Arbeitstechnik bei seinen Texten] entsprach dabei der von | |
Jayson Blair. Der Reporter der New York Times erfand nie die komplette | |
Geschichte, aber immer wieder wesentliche Handlungsstränge, Personen, | |
Fakten. | |
Auch Relotius sagt: „Es gab kein systematisches Vorgehen, jeder Text ist | |
anders entstanden. Ich habe nicht einfach möglichst beeindruckende | |
Geschichten am Reißbrett konstruiert, sondern in den allermeisten Fällen | |
recherchiert wie jeder andere auch.“ Beim Schreiben habe er sich dann in | |
ganz unterschiedlichem Ausmaß von der Realität gelöst und in der | |
unverrückbaren Überzeugung geschrieben, „es würde bei der Erzählform | |
Reportage keinen Unterschied machen, ob alles 1:1 der Realität entspricht | |
oder nicht.“ | |
Dass er damit so leicht durchkam, scheint ihn bis heute zu wundern: „Wenn | |
ich mit Fehlern konfrontiert wurde, habe ich reflexartig Erklärungen dafür | |
gefunden, auch für mich selbst. In anderen Momenten habe ich sehr bewusst | |
gelogen, in der Überzeugung, dass andere nur nicht verstehen könnten, warum | |
ich die Geschichte genau so schreiben musste.“ | |
## Frage nach Glaubwürdigkeit | |
Nachdem die Bombe beim Spiegel geplatzt war, ging Relotius für längere Zeit | |
in psychologische Behandlung. Hier musste und konnte er sich seinen | |
psychischen Problemen stellen. Angefangen hätten diese schon im | |
Zivildienst, lange vor seiner Tätigkeit als Journalist. | |
Er habe sich aber erst in den vergangenen zwei Jahren und nur mit | |
professioneller Hilfe damit auseinandersetzen können. „Ich hatte all das | |
auch nach dem Skandal nicht einfach präsent, sondern musste lernen, diese | |
Dinge überhaupt zu sehen.“ Er habe andere Menschen mit psychischen | |
Erkrankungen gekannt, „aber ich habe mich selbst nicht als krank | |
wahrgenommen“. | |
2012 habe beispielsweise nach einer Israel-Reise seine Sprache nicht mehr | |
„funktioniert“. Er habe das Gefühl gehabt „meine Gedanken verschwinden u… | |
fremde Gedanken strömen ein. Der Typ, der am Bahnhof mit sich selbst redet | |
– der war in der Zeit ich.“ Statt zu Hause zu bleiben, habe er versucht, | |
gleich wieder zu verschwinden und der Reportagen-Redaktion ein Thema | |
vorgeschlagen. „Das war wie eine Flucht“, sagt Relotius. Und an anderer | |
Stelle: „Es gab keine Not zu erfinden, aber eine, ungebremst zu schreiben.“ | |
„Der Typ, der am Bahnhof mit sich selbst spricht“ – da ist sie wieder, die | |
von vielen gelobte, bildhafte Sprache, die auch Relotius’ Texte | |
ausmacht(e). So stellt sich auch jetzt wieder die [4][Frage nach der | |
Glaubwürdigkeit]. Ja, dem einen Claas Relotius wäre zuzutrauen, sich auch | |
eine solche Beichte inklusive Selbstanklage zusammenzustricken. | |
Doch in meiner Sicht spricht aus diesem von Margrit Sprecher und Daniel | |
Puntas Bernet geführten, sehr kritisch-vorsichtigen Interview ein anderer | |
Claas Relotius. Dem zu entnehmen ist, dass er die letzten drei Jahre | |
gebraucht hat, sich selbst zu erkennen, vielleicht zu finden und zu | |
begreifen, dass Schreiben als Selbstbetrug zur Therapie nicht taugt. | |
Anmerkung d. Red.: Claas Relotius war 2008 Praktikant bei der taz Hamburg. | |
Während seines Masterstudiums an der Hamburg Media School 2009–2011 war | |
Steffen Grimberg dort zeitweilig als Dozent tätig. | |
2 Jun 2021 | |
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## AUTOREN | |
Steffen Grimberg | |
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