| # taz.de -- Ein Jahr Fälscher-Skandal beim „Spiegel“: Relotius' verbrannte… | |
| > Genau vor einem Jahr wurde der Fälschungsskandal beim „Spiegel“ bekannt. | |
| > Welche Lehren man aus dem Fall heute ziehen muss. | |
| Bild: Claas Relotius erhielt immer wieder Preise, hier den CNN Award im Jahr 20… | |
| Ein Jahr ist es her, da lud der Spiegel in Hamburg aus heiterem Himmel zu | |
| einem Pressegespräch. Und während die Medienjournalist*innen noch dorthin | |
| stapften, wo sie erfahren sollten, dass der Spiegel einen | |
| Geschichtenfälscher in den eigenen Reihen enttarnt hatte, bereitete der | |
| Hamburger Verlag bereits seinen eigenen Dreh zu der Affäre vor. | |
| Seither ist viel passiert. Es gab nicht nur eine schmerzhafte Aufarbeitung | |
| beim Spiegel, sondern auch eine Nabelschau des Journalismus allgemein. | |
| [1][Hängen wir zu sehr dem schönen Geschreibe an], lassen wir uns zu sehr | |
| blenden von dem was sein könnte anstatt fleißig zu prüfen, was ist? | |
| Zugegeben, es ist auch viel übertrieben worden im letzten Jahr. Jede | |
| Unsauberkeit, [2][jeder Mist, den irgendwo ein Journalist*in baute, war | |
| plötzlich ein „Relotius“-Fall]. Der Skandal verunsicherte und reizte teils | |
| zu übertriebenem Misstrauen. Aber einiges hat der Fall die Medienbranche | |
| dann doch gelehrt. | |
| ## Lektion 1: Starreporter gehören nicht ins Ausland | |
| Die Auslandsberichterstattung in Deutschland hat so einige Schwächen, wenn | |
| nicht sogar ein gewaltiges Problem. Auch dieses existiert nicht erst seit | |
| Claas Relotius, es ist durch ihn nur noch mal deutlicher geworden. | |
| In den vergangenen Jahren wurde der Auslandsjournalismus immer stärker | |
| ausgedünnt, [3][Korrespondent*innen aus Verträgen] entlassen und | |
| Berichtsgebiete zusammengelegt. Die wenigsten Häuser leisten sich heute | |
| noch eine kontinuierliche Berichterstattung aus dem Ausland. Und wenn doch, | |
| erwarten die Heimatredaktionen oft große Geschichten und Reportagen, die | |
| zwar am Schreibtisch ausgedacht funktionieren, nie aber die Realität | |
| abbilden. | |
| Beispielhaft dafür steht die Entstehung der Reportage „Jaegers Grenze“, die | |
| Relotius gemeinsam mit dem Reporter Juan Moreno, der ihn später der Lüge | |
| überführte, geschrieben hat. In [4][einer Mail von Matthias Geyer], die er | |
| damals noch in seiner Funktion als Leiter des Spiegel-Gesellschaftsressorts | |
| an Relotius und Moreno schrieb, formulierte dieser präzise, welche | |
| Vorstellungen er von der späteren Reportage hat, die aus zwei Perspektiven | |
| auf die Grenze zwischen den USA und Mexiko blicken sollte. | |
| Geyers Ausführungen lesen sich wie das Drehbuch zu einem Film. Es ist die | |
| Rede von Figuren, die man für einen Konflikt sucht. „Wenn ihr die richtigen | |
| Leute findet, wird das die Geschichte des Jahres“, schrieb Geyer noch am | |
| Ende seiner Mail. Und ja, „Jaegers Grenze“ wurde ein gefeierter Text. | |
| Journalistisch aber, das weiß man heute, war er nicht. | |
| Die Auslandsreportagen von Claas Relotius stehen also auch für einen Fehler | |
| im System, und dieser Fehler liegt in den deutschen Redaktionen selbst. Sie | |
| sind es, die statt in erfahrene Korrespondent*innen zu investieren, die mit | |
| Sprach- und Ortskenntnissen ausgestattet sind, lieber renommierte, dafür | |
| aber unwissende Starreporter ins Ausland schicken. | |
| In deren Reportagen finden sich deshalb nicht selten Stereotype, unnötige | |
| Zuspitzungen, Ungenauigkeiten. Vermeiden lässt sich dieses Problem nur | |
| durch das Investieren in Korrespondent*innen, engere Zusammenarbeit mit | |
| Übersetzer*innen und Expert*innen von dort. Damit die Geschichte aus dem | |
| Ort des Geschehens heraus- und nicht in ihn hineingetragen wird. | |
| ## Lektion 2: Die Reportage ist in Nöten | |
| …aber nicht erst seit Relotius. | |
| Die Reportage, das ist eine altehrwürdige journalistische Form. Die | |
| subjektive Wiedergabe eines einzelnen Ereignisses. Nur ein Moment, nur ein | |
| Ort und meistens nur eine Protagonist*in. Wer Reportagen schreibt, ist dem | |
| Schicksal ausgeliefert, kann nur beschreiben, was wirklich passiert. Genau | |
| deshalb hat diese Form seit jeher so eine besondere Anziehungskraft. Die | |
| Reporter*in bringt einen Moment nach Hause, der durch niemanden | |
| reproduziert werden kann. | |
| Der Nachteil: Niemand kann je 100-prozentig nachprüfen, was im Text steht. | |
| Bei vielen Angaben muss sich die Redaktion auf die Autor*in verlassen. Aber | |
| genau hier wurde Relotius erfinderisch. Weil ihm, so ist zu vermuten, die | |
| Momente, die er berichten wollte, nicht magisch genug waren. Und weil am | |
| anderen Ende Verlag und Redaktion nach immer magischeren Geschichten | |
| hungerten. | |
| Die Reportage hat es also schwer, seit Relotius. Wobei das nicht ganz | |
| stimmt, es gibt bereits einen Trend weg von der Momentaufnahme, der schon | |
| länger besteht. Seit mehreren Jahren schon, sagt Nannen-Schulleiter Andreas | |
| Wolfers, verantwortlich für den Henri-Nannen-Preis, würden bei den | |
| Reportagepreisen immer häufiger Texte eingereicht, die weniger Reportage | |
| als vielmehr Rekonstruktion sind. | |
| Eine Rekonstruktion ist anders als die Reportage eine Form, die nicht | |
| ausschließlich vor Ort stattfindet, sondern sich alle Zeit und | |
| Recherchewerkzeuge zunutze macht, um ein Ereignis oder eine Entwicklung | |
| nachzuerzählen. Streng genommen muss man dafür nicht mal vor Ort sein. „Die | |
| Rekonstruktion ist keineswegs eine schlechtere Form“, sagt Wolfers. „Schade | |
| ist, dass dadurch die klassische Reportage, also ein Text darüber, was die | |
| Reporterin selbst erlebt hat, ein bisschen unter die Räder gerät.“ | |
| Warum diese Form die andere ein Stück verdrängt, darüber kann man nur | |
| spekulieren. Vielleicht ist durch soziale Netzwerke das Bedürfnis, via | |
| Zeitungsartikel direkt vor Ort zu sein dem Bedürfnis gewichen, exakt und | |
| perfekt recherchiert informiert zu werden. | |
| Verschwinden wird die Reportage deswegen aber höchstwahrscheinlich nicht. | |
| Durch den Relotius-Fall müssen Reporter*innen aber inzwischen davon | |
| ausgehen, dass die Redaktionen Protokolle über die Recherche verlangen. Und | |
| dass stichprobenhaft überprüft wird, ob die Reportage plausibel ist. | |
| ## Lektion 3: Die eigentlichen Reformen stehen noch aus | |
| Im [5][Abschlussbericht der Aufklärungskommission] zum Fall Relotius taucht | |
| eines immer wieder auf: das Gesellschaftsressort des Spiegel und seine | |
| Besonderheiten. | |
| Im Bericht heißt es, das Gesellschaftsressort habe sich von den anderen | |
| Ressorts im Haus abgeschottet, die Zusammenarbeit mit anderen und auch eine | |
| fachliche Unterstützung abgelehnt. Man sei dort und auch in der | |
| Chefredaktion auf Journalistenpreise fixiert gewesen. Hinzu kommt ein Klima | |
| im Ressort, das es schier unmöglich machte, Dinge oder gar Kolleg*innen in | |
| Frage zu stellen. | |
| Erschreckend liest sich auch, wie unsterblich verliebt man offenbar in | |
| Claas Relotius war, wie blind ihm deshalb seine Vorgesetzten vertrauten, | |
| selbst dann noch, als die Beweislage gegen ihn eigentlich schon erdrückend | |
| war. Was hat man beim Spiegel nach diesem erschütternden Kommissionsbericht | |
| also verändert? | |
| Nun, organisatorisch wie personell hat sich einiges getan. Der frühere | |
| Leiter des Gesellschaftsressorts Matthias Geyer hatte den Spiegel relativ | |
| rasch verlassen, ebenso ein Dokumentar. Seit Ende dieses Jahres existiert | |
| das Gesellschaftsressort in seiner alten Form nicht mehr. Es trägt nun den | |
| Namen „Reporter“, arbeitet den anderen Ressorts zu und hat somit seine | |
| einstigen Privilegien verloren. Geleitet wird „Reporter“ außerdem von Özl… | |
| Gezer. | |
| Derzeit erstellen mehrere Arbeitsgruppen intern ein Richtlinienpapier, das | |
| „Erzählstandards, Recher-chestandards und Verifikationsregeln“ neu | |
| formuliert. Das ist ein Anfang. | |
| Die Kommission formulierte am Ende ihres Berichts mehrere Empfehlungen, um | |
| nicht nur die Qualität des Spiegel zu verbessern, sondern auch einen | |
| zweiten Relotius-Fall zu verhindern. Ein Teil davon wurde bereits | |
| umgesetzt. „Die Kritik- und Fehlerkultur im Haus ist nicht sehr | |
| ausgeprägt“, schrieb die Kommission aber auch. Und das gibt zu denken. Ob | |
| der Spiegel es schafft das Arbeitsklima und die gewachsenen Strukturen im | |
| Haus zu verändern, ist die viel größere Aufgabe. Und die wird Zeit | |
| erfordern. | |
| 19 Dec 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Der-Fall-Claas-Relotius-und-Journalismus/!5557396 | |
| [2] /Journalist-Dirk-Gieselmann/!5575492 | |
| [3] https://uebermedien.de/32144/die-welt-in-den-regionalzeitungen-schrumpft/ | |
| [4] https://uebermedien.de/41254/der-spiegel-matthias-geyer-wie-die-relotius-ko… | |
| [5] https://www.spiegel.de/media/media-44564.pdf | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Weissenburger | |
| Erica Zingher | |
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