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# taz.de -- Skandal um älteste jüdische Zeitung: Großer Vertrauensverlust
> Die fehlerhaften Berichte des Elon Perry erschüttern den „Jewish
> Chronicle“. Vier Prominente Autoren beenden die Zusammenarbeit. Was ist
> da los?
Bild: „Jewish Chronicle“ ist die älteste jüdische Tageszeitung der Welt. …
London taz | Es ist ein Paukenschlag in der britischen Medienlandschaft:
Anfang September kündigten vier namhafte Kolumnisten an, ihre
Zusammenarbeit mit dem 1841 gegründeten [1][Jewish Chronicle] (JC) zu
beenden – der ältesten, durchgehend erscheinenden jüdischen Zeitung der
Welt.
Es sind der Journalist und Autor David Aaronovitch, der Comedian David
Baddiel, der Guardian-Kolumnist Jonathan Freedland und die
Sunday-Times-Journalistin Hadley Freeman. Mit dem Rücktritt wollen sie
gegen den Kurs der Zeitung protestieren, der auch international hohe Wellen
schlägt
Im Zentrum des Skandals stehen sensationelle Berichte, die sich als falsch
herausstellten, eine Blattlinie, die immer unkritischer über die rechte
[2][Netanjahu-Regierung] berichtet, und mangelnde Transparenz über die
Eigentümer der Zeitung.
Die Krise begann mit einem Bericht des freien Journalisten Elon Perry vom
5. September. Perry, laut eigenen Angaben Geschichtsprofessor,
Veteranjournalist und Soldat der renommierten Golani Brigade der
[3][israelischen Armee] (IDF), berief sich wie in vielen seiner Artikel auf
Insiderquellen innerhalb der israelischen Sicherheitsbehörden. Er
behauptete etwa, dass Hamas-Chef Jahia Sinwar mit den restlichen
israelischen Geiseln durch Tunnel nach Ägypten und schließlich in den Iran
fliehen will.
Laut Berichten in den israelischen Zeitungen Haaretz und der Yedioth
Ahronoth gibt es allerdings keine Beweise dafür. Ein Dokument, auf das sich
Perry bezog, ist wohl eine Fälschung. Seine Behauptung kommt Premier
Benjamin Netanjahu sehr gelegen: Nur einen Tag zuvor warnte er vor genau
diesem Szenario. Deshalb spekulieren viele, dass seine Regierung, hinter
den gefälschten „Leaks“ stehen könnte. Die IDF hat nun Ermittlungen
eingeleitet.
## Sämtliche Artikel von Yifrach gelöscht
Perry selbst spricht von einer Hexenjagd auf ihn. Doch inzwischen wurde
nicht nur diesem Artikel scharf widersprochen. Große Teile Perrys
Lebenslaufs scheinen frei erfunden zu sein. Laut der israelischen
Nachrichtensendung Hazinor heißt Perry in Wahrheit Eli Yifrach. Ein
Professor der Tel Aviv University soll er nie gewesen sein, bis auf seine
neun Artikel für den Jewish Chronicle scheint er vorher auch kein
Journalist gewesen zu sein. Auch Teile seiner militärischen Laufbahn, etwa
die Behauptung, er sei 1976 an der Befreiungsaktion nach einer
Flugzeugentführung in Entebbe beteiligt, werden stark angezweifelt.
JC hat inzwischen sämtliche Artikel von Yifrach alias Perry gelöscht und
sich in einem kurzen Statement entschuldigt. Nach einer internen Ermittlung
sei die Zeitung mit seinen Angaben „unzufrieden“ und habe die
Zusammenarbeit beendet. „Wir entschuldigen uns bei unseren treuen Lesern
und haben unsere internen Abläufe überprüft, damit sich so etwas nicht
wiederholt.“
Doch wie die Zeitung die verfälschten Dokumente oder unbelegten
Behauptungen in Perry/Yifrachs Artikeln überprüft haben will und welche
Maßnahmen nun konkret unternommen werden, bleibt unklar. Auf eine Anfrage
der taz reagierte die Zeitung nicht.
Es ist nicht das einzige Problem für die traditionsreiche jüdische
Wochenzeitung, die eine verkaufte Auflage von 16.000 Exemplaren und
monatlich 1,17 Millionen Online-Besucher:innen hat. Seit einigen Jahren
sinken die Leser:innenzahlen, während der Covid-Pandemie stand JC vor dem
Aus.
## Mysteriöses Konsortium
Bis 2021 ein laut der britischen Zeitung Jewish News mysteriös entstandenes
Konsortium die Zeitung mit 2,5 Millionen Pfund (knapp 3 Millionen Euro)
rettete. Der damalige Vorsitzende des JCs bezeichnete es damals gegenüber
der Financial Times als schändlichen Versuch, die Zeitung an sich zu
reißen.
Zahlreiche Namen des neuen Eigentümerkonsortiums wurden offen genannt –
etwa Sir Robbie Gibb, ein ehemaliger Regierungssprecher unter Theresa May,
der das Konsortium leiten soll. Auch zwei Journalisten, ein Rechtsanwalt
und ein Rabbiner gehören dazu. Allerdings steht nur Gibbs Name im
Handelsregister. Woher man einen Kredit von 2,5 Millionen Pfund erhalten
habe, verrät er nicht.
Es sei in den vergangenen hundert oder mehr Jahren beispiellos, dass nicht
offengelegt werde, wer eine bedeutende britische Zeitung übernimmt,
kritisierte vergangene Woche der ehemalige Guardian-Chefredakteur Alan
Rusbridger in der Zeitung Independent. Drei Quellen hätten ihm gesagt, dass
das Geld von einem rechten Milliardär aus den USA stamme, der Netanjahus
Likud-Partei politisch nahestehen soll.
Der Investor dementiert das. Eine taz-Anfrage dazu ließ der JC
unbeantwortet. „Es liegt am Jewish Chronicle und seinen Besitzern selbst,
die Eigentumsstruktur offenzulegen“, sagt Tim Chivers von der Media Reform
Coalition, einer Kampagne, die sich für eine demokratische Medienlandschaft
einsetzt.
## Noch brisanter als sonst
„Das ist allgemein ein Problem in der britischen Unternehmensführung, aber
es ist noch brisanter, wenn es um eine Nachrichtenorganisation geht, die
wegen schwerwiegender Verstöße gegen redaktionelle Standards unter Beschuss
steht.“
Kritisiert wird auch, dass sich die Zeitung nach ihrer Rettung nicht
verbesserte. Der neue Chefredakteur Jake Wallis Simons ist in seinen
politischen Ansichten nicht weniger rechts als sein Vorgänger Stephen
Pollard.
Auch deshalb sind nun die vier bekannte Kolumnisten zurückgetreten. Hadley
Freeman kritisierte in der BBC, dass JC keine redaktionellen Standards mehr
habe, sondern eher einer Ideologie folge. Jonathan Freedland schrieb auf X,
dass die Zeitung „sich zu oft wie ein parteistrategisches, ideologisches
Instrument“ lese.
Auf taz-Anfrage sagt David Baddiel, Autor des Buches „Jews Don’t Count“:
„Ich wollte einfach nicht mehr für den Jewish Chronicle schreiben“ und
schloss sich Freedlands Kritik an. Ein freier Mitarbeiter des JCs, der
anonym mit der taz sprach, stimmt der Kritik teilweise zu. „Er hatte jedoch
durchaus versucht, verschiedene Ansichten in die Zeitung zu bringen“, sagt
er über Chefredakteur Simon.
## „Spektakulärer“ Abgang
Einen „spektakulären“ Abgang wie den der vier abgesprungenen
Starkolumnist:innen könne er sich nicht leisten. „Ihre vernichtende
Kritik schwärzt nun Journalisten wie mich an“, moniert er.
Gleichzeitig fordert auch er mehr Transparenz bezüglich der neuen
Eigentümer. „Das muss öffentlich gemacht werden“, sagt er. „Auch um der
Verbreitung von antisemitischen Verschwörungstheorien rund um die Zeitung
entgegenzutreten.“
23 Sep 2024
## LINKS
[1] /Geheime-Infos-aus-der-Terrororganisation/!6034145
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[3] /Ultraorthodoxe-in-Israels-Armee/!6030765
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
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Israel
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