Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Zur Manipulation von Wirklichkeit: Keine halben Sachen
> Von Relotius über Jebsen bis Tellkamp: Nicola Gess untersucht die
> Rhetorik der Halbwahrheiten. Und deren Funktion im postfaktischen
> Diskurs.
Bild: Der Lüge auf der Spur: Abschlussbericht zur Fälschungsaffäre des Spieg…
Halbwahrheit – ist das nicht die kleine, nette Schwester der Lüge? Wer
nicht kritisieren will, greift zum verhaltenen Kompliment. Wer seine
Hausaufgaben nicht geschafft hat, versucht es mit der halben Wahrheit.
Notanker, die helfen, durch den Alltag zu navigieren – Rettungsstrategien
für uns oder für andere. Eine Art Diplomatie im Kleinen vielleicht? Man
muss ja nicht gleich das Lob der Lücke anstimmen.
Justiziabel im engeren Sinn sind Halbwahrheiten nicht: wenn man nicht gegen
Informationspflichten verstößt. Fragen, die einem nicht gestellt werden,
muss man nicht unbedingt beantworten. Und dann wäre da noch die Ökonomie
der Mitteilung: Die ganze Wahrheit passt auf keine Zeitungsseite. Wer heute
alles preis gibt, hat morgen nichts mehr zu verschenken. Die alten,
verstaubten Sprichwörter braucht man da gar nicht zu bemühen: Reden,
Schweigen, Silber, Gold.
Wie kommt man von der kleinen, netten Schwester der Lüge zu den Bad Boys
des Rechtspopulismus, der Fälschung und der Verschwörungstheorie?
Adorno und Arendt
Nicola Gess nimmt sich die harten Fälle vor – in ihrem Essay
„Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit“. Die halbfiktiven
Reportagen des [1][früheren Spiegel-Reporters Claas Relotius], die
verschwörungstheoretischen Videos des [2][ehemaligen RBB-Journalisten Ken
Jebsen], die politischen Äußerungen des [3][Suhrkamp-Autors Uwe Tellkamp].
Drei verdichtete Analysen und ein Theorieteil, der es in sich hat.
Die Basler Literaturwissenschaftlerin mobilisiert nicht nur die Kritische
Theorie: Sie nimmt Adornos Ideologiekritik auf, bringt sie mit Hannah
Arendts politischer Theorie zusammen. Ein spezifischer Theorie-Blend
entsteht, weil Gess die Erzähltheorie dazunimmt. So bringt sie die
Kompetenz fürs Gesellschaftliche mit der fürs Fiktive zusammen. Das
verschiebt den Blick: von der Faktizität zur Glaubwürdigkeit.
Wenn es um Glaubwürdigkeit geht, lässt sich von der Literaturwissenschaft
und ihren Vorläufern lernen. Seit Jahrhunderten haben Poetiken die Frage
erwogen: Was macht eine Geschichte plausibel? Natürlich, die Antworten
darauf variieren. Fest steht jedoch: Faktentreue ist in der erzählenden
Wiedergabe nicht zwingend überzeugend. Das frei Erfundene kann viel
wahrscheinlicher klingen.
Die Spielwiese ist groß: Aus dem literarischen Werkzeugkasten lassen sich
verschiedene Formen und Formate aus- oder anprobieren. So mag die
persönliche Anekdote für Intimität sorgen, Vertrauen stiften. So mögen
strategisch gezeichnete Charaktere Sympathie provozieren oder Abscheu
erregen. Die gedämpfte Anspielung mag für die Suggestion von Realität
sorgen. Oder die Andeutung von Geheimnissen für Tiefsinn.
## Literarische Freiheit und fehlende Verantwortung
Freilich: Die literarische Freiheit zeigt dabei auch ihre hässliche Seite.
Sie steht auf zynischem Grund – und lehnt jede Verantwortung ab. Gess
analysiert, wie die „postfaktische“ Rhetorik sich aus dem literarischen
Repertoire geschickt bedient. Welchen Logiken sie folgt, was sie – allen
faktischen Widerlegungen zum Trotz – so kraftvoll anziehend macht. Die
Soziologie gibt darauf ebenso Antworten wie die Psychologie. Gess zeigt:
auch die Literaturwissenschaft liefert einen wichtigen Baustein.
Die drei Fälle, die Nicola Gess in den Blick nimmt, sind gut ausgeleuchtet.
Der Spiegel hat eine umfangreiche Recherche angestellt und die Unwahrheiten
seines ehemaligen Reporters offengelegt. Auch sind die wichtigsten und
häufigsten Coronalügen dokumentiert und detailliert widerlegt, teils sogar
auf ihre Quellen hin untersucht. Ähnliches gilt für die rechten Dresdner
Netzwerke und die Kontroversen seit der „Charta 2017“. Das ist kein
Nachteil – sondern die Voraussetzung für Gess’ Programm.
Sie analysiert nicht primär Lügen, sondern schlechte Geschichten. Weil es
um die Logik von Fiktionen geht, würden Faktenfinder nur bedingt
weiterhelfen. Das ist eine Pointe ihres Essays. Faktenchecks beleuchten die
eine Seite, zeigen Unwahrheiten und Irrtümer auf. Aber sie bekommen die
andere Seite nicht in den Griff: die der Performanz. Gess will dem
fiktiv-faktualen Gemisch der Beschwörungskünstler rhetorisch auf die Spur
kommen: „How to do things with half-truths“.
Heute reden die Rechten wieder von der „Lügenpresse“: Die Widerlegung ist
so wichtig wie heikel: droht doch ein performativer Widerspruch. Durch die
Entkräftung wird die Behauptung anerkannt, wird ihr Kredibilität verliehen.
Gess schlägt einen möglichen Ausweg vor. Solche Behauptungen als das zu
behandeln, was sie sind: miese, kleine Geschichten.
7 Mar 2021
## LINKS
[1] /Spiegel-veroeffentlicht-neue-Standards/!5661791
[2] /Proteste-gegen-Coronapolitik/!5682411
[3] /Debatte-um-Schriftsteller-Uwe-Tellkamp/!5487835
## AUTOREN
Henrikje Schauer
## TAGS
Politisches Buch
Lügen
Wahrheit
Claas Relotius
Uwe Tellkamp
Ken Jebsen
Claas Relotius
Ken Jebsen
Claas Relotius
Kulturpolitik
Political Correctness
Claas Relotius
## ARTIKEL ZUM THEMA
Sky-Doku über Claas Relotius: Der ideale Untergebene
Eine Doku über den Relotius-Skandal zeigt Defizite bei der Aufklärung. Der
Journalismus wäre die Affäre gerne los, aber so einfach ist das nicht.
Sechsteiliger Podcast zu Ken Jebsen: Der Weg zum Verschwörer
„Cui Bono: WTF happened to Ken Jebsen?“ behandelt nicht nur die Figur
Jebsen, sondern auch Desinformation im digitalen Zeitalter allgemein.
Ex-Spiegel-Reporter Relotius: Schreiben als Selbstbetrug
Ex-Journalist Claas Relotius hat seine Reportagen zum Teil frei erfunden.
Jetzt begründet er es mit seiner psychischen Krankheit. Ist das
glaubwürdig?
Zoff in Radebeul um Autor Jörg Bernig: Kulturkämpfer gibt endlich auf
Jörg Bernig ist mit völkisch-nationalistischen Positionen aufgefallen. Nach
heftigem Streit tritt er nicht mehr zur Wahl eines Kulturamtsleiters in
Radebeul an.
Tagung des Deutschen Literaturfonds: Widerspruchsvolle Windeln
AutorInnen und KritikerInnen diskutieren in Leipzig über Political
Correctness in der Literatur – und über das Verhältnis von Fake und
Fiktion.
Ein Jahr Fälscher-Skandal beim „Spiegel“: Relotius' verbrannte Erde
Genau vor einem Jahr wurde der Fälschungsskandal beim „Spiegel“ bekannt.
Welche Lehren man aus dem Fall heute ziehen muss.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.