# taz.de -- Tagung des Deutschen Literaturfonds: Widerspruchsvolle Windeln | |
> AutorInnen und KritikerInnen diskutieren in Leipzig über Political | |
> Correctness in der Literatur – und über das Verhältnis von Fake und | |
> Fiktion. | |
Bild: Waren sich weitgehend einig: Antje Kunstmann, Michael Lemling, Tina Uebel… | |
Was haben die vollgeschissenen Windeln des Sohns von Karl Ove Knausgård in | |
einem Gespräch über die Wahrhaftigkeit von Literatur zu suchen? Nun, eine | |
Menge natürlich. | |
Denn als die beiden Schriftsteller:innen Georg Klein und [1][Sibylle | |
Lewitscharoff] sowie Literaturkritikerin Meike Feßmann am Freitagmorgen im | |
Literaturinstitut Leipzig über erzählerische Freiheit, Fake und Fiktion | |
diskutieren, da sprechen sie auch über das Gegenteil, über allzu wenig | |
Fiktionalisierung in den Boom-Genres Memoire und [2][Autofiktion]. Und | |
somit über Karl Ove Knausgård, der über die Hausarbeit am Wickeltisch | |
schreibt. | |
Lewitscharoff, angriffslustig wie eh und je, hält solch langwierige | |
Alltagsbeschreibungen für elendig öde: „Knausgård zu lesen, das ist | |
wirklich entsetzlich. Ob der Kerl da ein bisschen depressiv war oder | |
schlecht geschlafen hat … langweilig. Der Zwang zum Autobiografischen | |
bekommt für mich etwas fast Perverses.“ | |
Feßmann besteht auf der gesellschaftlichen Bedeutung Knausgårds, denn es | |
sei ja etwas Neues gewesen, als Väter begannen, so über ihre Vaterschaft zu | |
schreiben: „Das heißt eben: Windeln wechseln, immer wieder das Gleiche, | |
eine nervtötende Routine und Arbeit, die mit einer Riesenverantwortung | |
verbunden ist. Knausgård war offenbar für viele Männer identifikatorisch.“ | |
Nah an drängenden Fragen der Literatur der Gegenwart war die gesamte | |
Tagung, zu der der Deutsche Literaturfonds anlässlich seines 40-jährigen | |
Bestehens geladen hatte. So stand neben dem Verhältnis von Fake und Fiktion | |
auch die omnipräsente Debatte über Political Correctness in der Literatur | |
auf der Agenda, dazu später mehr. | |
## Relotius, Menasse, Würger | |
Mit der Tagung wollte die vom Bund mit 2 Millionen Euro jährlich geförderte | |
Institution, die unter anderem den Großen Preis des Deutschen | |
Literaturfonds (ehemals Kranichsteiner Literaturpreis) und verschiedene | |
Stipendien vergibt, wohl auch jenseits der Insiderkreise in Erscheinung | |
treten – was so halb gelang. Die rund 80 Besucher:innen waren überwiegend | |
Schreibprofis oder angehende Schreibprofis, die am Leipziger | |
Literaturinstitut studieren. | |
Neben dem Windelwechseln geht es im ersten Teil auch um die | |
Fake-Diskussionen jüngerer Zeit – um Relotius, um Robert Menasse und, ohne | |
genannt zu werden, auch um Takis Würger („Stella“). Damit gelangt die von | |
Thomas Böhm und Bettina Baltschev moderierte Runde zu den moralischen | |
Fragen an die Literatur und den Autor, zu der Frage von erzählerischer | |
Freiheit versus Verantwortung für den Stoff. Auf literarischem Terrain sei | |
die Frage, wie man fingieren darf, vor allem eine thematische, so | |
Lewitscharoff: „Es gibt Themen, wo ich den Fake fragwürdig finde.“ Über d… | |
NS etwa könne man nicht mal eben ein „Fiktiönchen machen“. | |
Aber wie wird überhaupt Wirklichkeit im Subjekt konstruiert, und wie | |
wirklich ist das, was wir als Wirklichkeit bezeichnen? Das müsse man im | |
digitalen Zeitalter völlig anders beantworten als zuvor, meint Feßmann, | |
wenn man zum Beispiel wisse, dass den Fotos, die wir machen, schon | |
Algorithmen vorgeschaltet seien. | |
Zudem habe die Digitalisierung eine neue Wahrnehmung der Wirklichkeit | |
erzeugt, die jüngere Generation sei „von Vernetzung viel mehr geprägt als | |
von Versenkung“. Georg Klein meint, man müsse zwischen den verschiedenen | |
Ebenen der Wahrnehmung – etwa „die Wirklichkeit meiner Medienrezeption, die | |
Wirklichkeit meines alten Körpers“ – differenzieren. | |
## Mikroaggression und kulturelle Aneignung | |
Mehr Reibung verspricht die anschließende Diskussion „Political Correctness | |
oder Literatur?“. Einzig: Das Podium ist mit Welt-Literaturkritikerin Mara | |
Delius, Verlegerin Antje Kunstmann, [3][Autorin Tina Uebel] und dem | |
Münchener Buchhändler [4][Michael Lemling] zu homogen besetzt – sie | |
schildern überwiegend die mitunter absurden Auswüchse, die der Anspruch der | |
Political Correctness für ihre Arbeitsbereiche bedeutet. | |
So fürchtet Antje Kunstmann als Verlegerin eine ‚Säuberung‘ von Literatur: | |
„Wenn man Widersprüche in der Gesellschaft in der Literatur nicht mehr | |
darstellen will, was ist das denn dann? Wenn man das alles ausschließen | |
will, hat man einen komplett langweiligen Text, der aber pc ist.“ | |
Die Hamburger Autorin und Clubbetreiberin Tina Uebel sieht alte | |
Emanzipationsbestrebungen in der heutigen Identitätspolitik als völlig ins | |
Gegenteil verkehrt, etwa in den Konzepten von Mikroaggression oder | |
kultureller Aneignung. „Dass man nur Repräsentant einer bestimmten | |
Identität ist, ist eigentlich ein Gedanke, gegen den wir mal kämpfen | |
wollten. Also dass jetzt zum Beispiel alle Menschen mit einem gewissen | |
Body-Mass-Index dieselben Ansichten, dieselben Sensibilitäten haben. Eine | |
grauenhafte Vorstellung.“ | |
Weitgehend einig sind sich alle, dass die Debatte zu wenig intellektuell | |
und zu emotional geführt werde, aber auch, dass der Impuls der politischen | |
Korrektheit zunächst mal richtig sei: „Das heißt ja erst mal nichts | |
anderes, als Ausdrucksweisen und Handlungen abzulehnen, die jemanden | |
diskriminieren aufgrund seiner Herkunft, Sexualität, Neigung oder sozialen | |
Schicht“, sagt Delius. | |
## Sensitives Lesen | |
Doch erst mit den Publikumsbeiträgen wird deutlich, wie verhärtet die | |
Fronten sind. Als es um das Sensitivity Reading geht, eine Form des Prüfens | |
von Texten auf „schädliche oder missverständliche Darstellungen“ | |
(Beschreibung einer Berliner Agentur, die diesen Dienst anbietet), empört | |
sich eine junge Frau über das Gelächter auf dem Podium: „Warum lachen Sie | |
das weg? Nehmen sie das Thema bitte ernst.“ | |
Eine weitere Frau schließt daran an: Bei Personengruppen, denen man nicht | |
angehört, solle man doch die Betroffenen fragen, wie sie bezeichnet und | |
beschrieben werden wollen. Damit hätte die Diskussion richtig beginnen | |
können – nur ist sie da zu Ende. | |
So bleibt der Eindruck, dass es nicht funktioniert, Themen wie das Gendern | |
in der Sprache, kulturelle Aneignung, fehlende Repräsentanz bestimmter | |
Gruppen in Jurys, auf Podien etc. zusammen mit Verweis auf „die“ Political | |
Correctness zu verhandeln. Beispielsweise liegt zwischen politisch | |
korrekter Sprache im Journalismus und in der Literatur doch ein großer | |
Unterschied, wird in Letzterer doch sehr viel mit uneigentlichem Sprechen | |
gearbeitet. | |
Da könnte Kritik ansetzen, dass zwischen verschiedenen Sprechhaltungen, | |
zwischen verschiedenen Kontexten kaum noch differenziert wird, wenn | |
bestimmte Sprachregelungen eingefordert werden. Darüber muss man im | |
Gespräch bleiben. Das aber, so viel deutete sich in Leipzig an, ist gar | |
nicht so einfach. | |
3 Feb 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Neues-Buch-von-Sibylle-Lewitscharoff/!5044942 | |
[2] /Lebenswerk-des-Autors-Tomas-Espedal/!5629828 | |
[3] https://www.zeit.de/2018/25/politische-korrektheit-einfluss-schriftstelleri… | |
[4] /Verleger-zu-Stokowski-Debatte/!5553883 | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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