# taz.de -- Lebenswerk des Autors Tomas Espedal: Das Ende der Real-Life-Saga | |
> Der norwegische Schriftsteller Tomas Espedal hat ein zehnbändiges | |
> biografisches Mammutprojekt abgeschlossen. Wie will er sich neu erfinden? | |
Bild: Tomas Espedal in Bergen | |
Wie geht es einem, der gerade eben ein Lebenswerk abgeschlossen hat? | |
Ziemlich schlecht, sagt Tomas Espedal. | |
Der norwegische Autor, 57 Jahre alt, sitzt im bläulichen Schimmer einer | |
Hotellounge im alten Westen Berlins, er ist gerade auf Lesereise in | |
Deutschland. Zwanzig Jahre und zehn schmale Bände (und einen Fotoband) | |
lang hat Tomas Espedal, der von der Westküste stammt, der Leserschaft aus | |
seinem persönlichen Leben erzählt – in Form von Essays, Briefen, | |
Kurzgeschichten, Langgedichten und Tagebüchern. | |
Er hat über Liebe und Schmerz, Lust und Verlust, Rache und Verrat, über | |
Lebensmüdigkeit und den Tod geschrieben. Auf Deutsch sind zuletzt | |
„Bergeners“ und „Das Jahr“ erschienen, in Norwegen wurde vergangenes Ja… | |
der letzte Band seiner autobiografischen Reihe veröffentlicht („Elsken“, | |
deutsch: „Lieben“). | |
Und jetzt? „Jetzt beginnt etwas Neues“, sagt Espedal. „Es ist schwierig, | |
etwas abzuschließen und sich neu zu erfinden. Aber ich habe etwas im Kopf. | |
Wenn Frankfurt vorbei ist, geht es an die Arbeit.“ Zunächst drehe sich noch | |
alles um die Frankfurter Buchmesse, bei der Norwegen Gastland ist und er | |
auftreten wird. | |
Auch er ist gespannt, wie sich das 5-Millionen-Einwohner-Land mit seiner | |
traditionell starken Literaturtradition präsentieren wird: „Hoffentlich | |
geht es wirklich um gute Literatur und nicht darum, noch mehr Touristen | |
nach Norwegen zu locken. Wir haben schon genug“, sagt er und grinst. | |
## Manche Bücher von ihm sind ganz okay | |
Dass der Mann über Humor und Selbstironie verfügt, zeigt sich gleich zu | |
Gesprächsbeginn. Darauf angesprochen, dass ja leider noch nicht alle seine | |
Bücher ins Deutsche übersetzt sind, zuppelt er sein Gegenüber am Ärmel und | |
sagt: „Seien Sie froh! Ich habe bislang 15 Bücher geschrieben, 10 von ihnen | |
sind vielleicht ganz okay …“ | |
Ein bisschen Understatement ist das schon, denn seine Bedeutung ist | |
zumindest in der Literaturkritik anerkannt. Espedal hat gemeinsam mit | |
seinem Freund und Kollegen [1][Karl Ove Knausgård] die norwegische | |
Literatur aufgerüttelt. Ende der 80er trafen die beiden an der | |
Schreibakademie in Bergen aufeinander, zwei junge Schreiber, die | |
gelangweilt waren von der Gegenwartsliteratur ihres Heimatlands: sie war | |
ihnen zu brav, es knallte zu wenig, es gab keine Action. Sie aber wollten | |
direkt aus dem schmutzig-schönen Leben erzählen. Mehr Straßenköter wagen. | |
So schrieben sie auf, was sie bewegt und wandten sich in den kommenden | |
Jahren dem autofiktionalen Schreiben zu, einer Mischform von | |
autobiografischem und fiktionalem Erzählen. Espedal begann sein | |
biografisches Mammutprojekt im Jahr 1999. | |
## Sie mögen keine Intellektuellen | |
Dass einer wie er überhaupt im Literaturbetrieb (oder knapp außerhalb | |
davon) landet, ist alles andere als selbstverständlich. Er ist in Bergen | |
geboren und lebte fast ausschließlich dort (ihn verbindet eine Hassliebe | |
mit der Stadt), und er stammt aus einer Arbeiterfamilie, was er nicht an | |
die große Glocke hängt, ihn aber bis heute beschäftigt: „Mein Vater war | |
Kommunist, er stand den Gewerkschaften nahe. Ich hadere deshalb mit meiner | |
Identität. Ich habe großen Respekt vor dem, was Kommunisten und | |
Gewerkschaftler in Norwegen geleistet haben. Aber sie haben keinen Respekt | |
vor mir und meiner Arbeit. Sie mögen keine Intellektuellen und keine | |
Schriftsteller.“ | |
Vom Typ her passt Espedal in die Eckkneipe so gut wie in ein | |
Literaturseminar – er hat nicht Steifes oder Abgehobenes, macht eher mal | |
einen derben Spruch, als dass er allzu abstrakt spräche. | |
Wirklich berühmt wurde die norwegische Schule um Espedal und Knausgård | |
erst, als Letzterer zwischen 2009 und 2011 in Norwegen seinen sechsbändigen | |
Romanzyklus mit dem provokativen Titel „Min Kamp“ („Mein Kampf“) | |
veröffentlichte. Darin schildert er ungeschönt das Verhältnis zu seinem | |
Vater und seinen Verwandten, er schreibt auch über einen Suizidversuch | |
seiner damaligen Frau. Und er nennt diese Menschen – wie Espedal zum Teil | |
auch – mit ihren realen Namen. | |
„In Norwegen war es ein Schock, als seine Bücher erschienen. Die Leute | |
lasen über sich selbst darin“, sagt Espedal rückblickend. „All das, von d… | |
es hieß, das mache man nicht, haben wir gemacht. Und plötzlich brauchten | |
die Verlage gute Anwälte, es gab eine Menge Reaktionen im wirklichen | |
Leben.“ Insbesondere Knausgård wurde – naheliegend und nicht ganz | |
unberechtigt – Effekthascherei vorgeworfen. Sein Onkel drohte ihm mit einer | |
Schadenersatzklage. Das Land, das wie ein großes Dorf funktioniert, hatte | |
eine Real Life Soap auf sehr hohem literarischem Niveau. | |
Während Knausgård zur Marke wurde, blieb Espedal international weitgehend | |
unbekannt. Dabei sind seine Texte literarisch ein spannender Gegenentwurf | |
zu denen Knausgårds. Espedal hat ähnliche Themen, die Form ist | |
experimenteller. Bei Knausgård bleibt chronologisches, aufeinander | |
aufbauendes Erzählen möglich, Espedal hingegen schreibt fragmentarisch, | |
lyrisch, aphoristisch. | |
Er sieht den Roman als experimentelles Format, in einer Tradition von | |
Laurence Sterne bis William Faulkner. „Es muss etwas mit der Sprache | |
passieren im Roman. Ich hasse Leute, die Bücher schreiben und sie Romane | |
nennen, wenn es doch eigentlich Schlafmittel sind. Der Roman war von Beginn | |
an eine Form, in der man mit Sprache, mit gesellschaftlichen und | |
politischen Themen experimentiert.“ | |
## Lampedusa im Radio | |
Die tagespolitischen Themen schwingen in dem Buch „Das Jahr“, der von der | |
Form wie ein Langgedicht ist, unterschwellig mit. Zum Beispiel streifen die | |
Mittelmeertoten den Erzähler beiläufig, als eine Nachricht aus dem Radio | |
verlesen wird, vom Lärm der Kaffeemaschine fast übertönt: „[…] ich hörte | |
die Nachrichten heute oh boy ein Schiff mit / Flüchtlingen mehr als | |
fünfhundert heißt es ist vor / Lampedusa gekentert. / Mindestens | |
einhundertachtundneunzig / die genaue Zahl ist nicht bekannt / wie soll | |
man Ertrunkene zählen / wie soll man Tote zählen / wenn sie zu hunderten | |
tausenden ertrinken / vor der Küste der schönen Insel Lampedusa. / Der | |
Nachrichtensprecher sagt das Meer sei ein Friedhof / für die Flüchtlinge | |
geworden ich höre es fast nicht beim Lärm / der Kaffeemaschine das Wasser | |
gurgelt einen strömenden / Bach oder ein schäumendes Meer wenn man das Ohr | |
dicht / an den Apparat legt kann man die Toten fast hören.“ | |
Noch präsenter als die Flüchtlingsthematik ist der Klimawandel in dem Buch. | |
„Das Jahr“; die Jahreszeiten mit ihren neuen klimatischen Ausschlägen ins | |
Extreme bilden das Grundrauschen des Buchs: „Man sagt zur Entschuldigung: / | |
Auch die Natur zerstört die Natur. / Veränderungen sind natürlich, sagt | |
man. / Die Gletscher schmelzen. / Das Geräusch von schmelzendem Schnee, es | |
ist schön. / Frühling, der ewige Frühling. / Hier ist jetzt immer | |
Frühling“. | |
Espedal erzählt leise, unaufdringlich, deskriptiv, spart Widersprüche und | |
Lebenslügen nicht aus. Zusammen mit seinem Vater ist er auf einem | |
Kreuzfahrtschiff unterwegs. „Jede Perversion, die man hat, ist da | |
verwirklicht“, sagt er und erzählt vom ausschweifenden Bordleben. Und er | |
schreibt über seine Privilegien als erfolgreicher Schriftsteller. | |
Seine autobiografischen Geschichten lehnt er dabei oft an Vorbilder aus der | |
Weltliteratur an. Als er sich in eine sehr viel jüngere Frau verliebt, | |
bedient er sich bei der Mittelalter-Saga von Abélard und Héloïse, um davon | |
zu erzählen („Wider die Natur“, 2012). Nachdem ihm ein guter Freund | |
ebendiese ausgespannt hat, wandelt er in „Das Jahr“ auf den Spuren von | |
Petrarca, um die Liebe und den Schmerz zu beschreiben (und bezieht sich auf | |
Wittgensteins These von der Unmöglichkeit, über Schmerzen zu sprechen). | |
Und beim Schreiben über seine geliebte und gehasste Heimatstadt Bergen | |
dienen ihm James Joyce’ Erzählungen „Dubliners“ als Referenz. Die | |
literarische Agenda bleibt es aber, sich am realen Leben zu orientieren, | |
wie er in „Bergeners“ formuliert: „Wir müssen die Stadt beschreiben, in … | |
wir wohnen, die Zeit, in der wir leben, die Freunde, die Diskussionen, die | |
Politik, die Einsamkeit. Wir dürfen uns nicht in einem Gedicht und einem | |
konstruierten Universum verlieren, in falscher Literatur, was wir | |
schreiben, muss wahr sein […].“ | |
## Auch Kollege Knausgård erfindet sich neu | |
Warum aber will er sich nun vom autofiktionalen Schreiben lösen? Espedal, | |
ein zugewandter, lebhafter Typ, zieht die Stirn über den charakteristischen | |
Augenschlitzen hoch, als er das gefragt wird. So als wolle er dem, was nun | |
kommt, besonderen Ausdruck verleihen. „Anfangs war diese Art zu schreiben | |
wirklich radikal. Es hatte eine bestimmte Kraft, und es hat wichtige | |
Diskussionen ausgelöst. Über Persönlichkeitsrechte, über das Verhältnis von | |
Privatem und Öffentlichem. Ich glaube aber, dass Autofiktion in Norwegen an | |
ein Ende gekommen ist. Es ist witzig, dass auch Karl Ove sagt, er höre auf, | |
über sich selbst zu schreiben.“ | |
So war sein Konterpart Karl Ove Knausgård jüngst in einem Interview mit dem | |
New Yorker voll des Lobes für Peter Handkes Buch „Wunschloses Unglück“ | |
(1972) – also einen völlig anderen Zugang zum autobiografischen Schreiben. | |
Denn Handke erzählt die Metaebene mit und beschreibt die Gesellschaft sowie | |
den Status, der seiner Mutter darin zuerkannt wird. Handkes Mutter steht im | |
Zentrum des Geschehens. Knausgård nennt dessen Zugang im Interview „more | |
truthful“. Unabhängig davon wäre es nicht das Schlechteste, wenn auf den | |
Boom des Autofiktionalen etwas weniger Ichsagerei folgen würde. | |
Was Tomas Espedal betrifft, so wird auf Deutsch noch dessen letzter | |
Autobiografieband erscheinen, wahrscheinlich 2021. An dessen Ende, so viel | |
ist schon bekannt, begeht der Erzähler Suizid. | |
Bleibt die Frage: Was nun? „Als ich fertig mit den Erzählungen war und | |
nicht wusste, wohin mit mir, fuhr ich nach Island. Ich habe mich dort mit | |
einigen Schreibern getroffen. Wir tranken und wir diskutierten darüber, was | |
die Literatur nun tun muss angesichts der globalen Krisen. Um vier Uhr in | |
der Nacht ging ich auf mein Zimmer, kaufte eine weitere Flasche Wein, und | |
zack hatte ich einen Geistesblitz. Ich wusste, was ich machen werde.“ Was | |
das sein wird, das bleibt sein Geheimnis. Vorerst. | |
18 Oct 2019 | |
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## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
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