# taz.de -- Kontroverse um kulturelle Aneignung: Das Feuilleton darf nicht knei… | |
> Um Jeanine Cummins Thriller „American Dirt“ ist eine Debatte um | |
> kulturelle Aneignung entbrannt. Diese sollte ernst diskutiert werden. | |
Bild: Ein langer Weg zur Diskussion: Eisenbahnstrecke an der Route mexikanische… | |
Als zu Beginn des Jahres das erste Strohfeuer der Kontroverse über den | |
Roman „American Dirt“ im deutschsprachigen Feuilleton aufloderte, da war | |
das Buch auf Deutsch noch gar nicht erschienen. Trotzdem erfuhr das | |
Publikum erstaunlich viel zur Autorin Jeanine Cummins und ihren Thriller | |
über die Flucht einer mexikanischen Mutter und ihres kleinen Sohnes vor | |
einem gewalttätigen Kartell. | |
Gerahmt wurde die Debatte hierzulande vor allem als ein weiterer Fall im | |
[1][Kampf von Kunst gegen Identitätspolitik]. In der [2][Süddeutschen | |
Zeitung hieß es]: „Weil die Autorin des Romans aber keinen | |
lateinamerikanischen Hintergrund hat, sondern eine weiße Amerikanerin ist, | |
und ihr Buch von einer überwiegend weißen Verlagsbranche für ein | |
überwiegend weißes Publikum in Position gebracht wurde, häuften sich kurz | |
nach Erscheinen des Buches identitätspolitische Einwände.“ | |
Diese Rahmung wurde im Titel des entsprechenden Artikels in der Zeit auf | |
den Punkt gebracht: „Darf sie das?“ Verbunden war dieses Framing der | |
Diskussion als Verbotsdebatte mit einem gewissen Unmut darüber, dass diese | |
Debatte überhaupt existiert. Der Artikel in der Welt, der fast exakt den | |
gleichen Titel trägt („Darf die das“), endet mit den Worten: [3][„Aber | |
warum müssen wir solche Debatten über Literatur überhaupt führen?“] | |
Als „American Dirt“ im April auf Deutsch erschien (Rowohlt, aus dem | |
Amerikanischen von Katharina Naumann, 560 Seiten, 15 Euro), flammte die | |
Kontroverse erneut auf. Die Argumente und die Intensität der Genervtheit | |
haben sich aber kaum verändert. Im Spiegel wurden die streitenden Parteien | |
gar apodiktisch in ein liberales und ein illiberales Lager eingeteilt. | |
Illiberal fand man die Kritik an Cummins offenbar auch beim Focus. Dort | |
wurden die Gründe für die Proteste als „schräg und unfair“ bezeichnet: �… | |
ist der in den USA gerade sehr gängige Vorwurf der ‚kulturellen Aneignung‘: | |
Wer nicht aus Jamaika stammt, solle keine Dreadlocks tragen; wer nicht aus | |
Japan kommt, keinen Kimono anziehen; und wer kein Flüchtling ist, nicht | |
über Flüchtlinge schreiben.“ | |
## Angebliche Absurditäten | |
Ein angebliches Verbot weißer Dreadlocks wird auch im Spiegel genannt, dazu | |
der Protest gegen Sushi auf dem Speiseplan einer Mensa in den USA. Man hat | |
den Eindruck, dass die Debatte über den Roman sich vor allem in eine | |
inzwischen gut bekannte Fallgeschichte einreiht, die die angeblichen | |
Absurditäten der Political Correctness auf besonders grelle Art | |
veranschaulichen soll. Dabei handelt es sich etwa bei der lieb gewonnenen | |
Geschichte vom Sushiprotest um eine mehr als fragwürdige Legende, wie | |
Adrian Daub letztes Jahr in einem Artikel in der FAS gezeigt hat („Selber | |
Snowflakes!“, FAS 19. 11. 2019). | |
Aber in der deutschen Diskussion geht es auch nicht um die konkrete | |
Komplexität von Einzelfällen, sondern um die abstrakte Simplizität einer | |
Prinzipiendiskussion. | |
Für solche Grundsatzdiskussionen eignet sich der Skandalimport aus den USA | |
in besonderer Weise, weil die kulturelle und räumliche Distanz zu den | |
skandalisierten Fällen sie zum perfekten Spielmaterial einer Kontroverse | |
macht, in der es von Anfang an darum geht, die Gegenmeinung als absurd zu | |
verabschieden. Dazu gehört auch der leicht entgeisterte Ton vieler Texte | |
aus diesem Umfeld wie etwa in der Zeit, wo ungläubig gefragt wurde: „Kann | |
ich noch tollpatschig zu Rap tanzen, oder verhöhne ich damit die | |
Sklaverei?“ | |
## Standardisiertes Sprechen | |
So entsteht ein standardisiertes Sprechen über das extrem komplexe Problem | |
der kulturellen Aneignung. Die anekdotische Evidenz sehr unterschiedlicher | |
Phänomene (Dreadlocks, Kimonos, Sushi, Tanzen, Literatur) wird zu einem | |
diskursiven Strohmann zusammengestoppelt, den man dann halb entnervt, halb | |
genussvoll erledigen kann. Es entspricht dann fast einer Form von | |
emotionaler Ehrlichkeit, wenn der Kommentar im Stern mit den Worten endet: | |
„Wer ‚American Dirt‘ atemlos durchgelesen hat, möchte den | |
Authentizitätswächtern, noch mit gelesenem Geschmack von Reis, Tortillas | |
und Wüstensand im Mund, zurufen: Selbst wenn es ein Eskimo geschrieben | |
hätte, es hat mich durchgewühlt!“ | |
Die Aufzählung und Vermischung angeblicher kultureller Verbote im Dienst | |
der immergleichen Diskussion darüber, was man heute überhaupt noch darf, | |
bezeichnen einen unbefriedigenden Status der intellektuellen | |
Auseinandersetzung über die wichtigen Fragen nach dem Verhältnis von Ethik | |
und Ästhetik. Allein die Tatsache, dass über dieses Verhältnis erbittert | |
gestritten wird, zeigt seine gesellschaftliche Relevanz. Egal, wie man sich | |
zu diesen Themen positioniert, sie haben es verdient, ernst genommen zu | |
werden: als ein gesellschaftliches Bedürfnis nach theoretischer Reflexion. | |
Literaturwissenschaft und Feuilleton sind aufgerufen, sich dieser | |
Herausforderung zu stellen. | |
Eine solche Debatte müsste damit beginnen, dass sich alle Beteiligten | |
eingestehen, dass es sich um extrem komplexe Probleme handelt – Probleme, | |
die vor allem faszinierende und produktive intellektuelle Rätsel | |
darstellen. Was der Debatte unter anderem fehlt, ist eine gewisse | |
Dankbarkeit darüber, dass die Gegenwart noch immer über solche | |
literaturtheoretischen Zankäpfel verfügt. | |
Ein produktiv rätselhafter Umstand wäre zum Beispiel, dass die Frage nach | |
der ästhetischen Qualität auch die ethische Einschätzung eines Textes zu | |
beeinflussen scheint. Die Kritiken aus den USA, die jetzt als Beispiele für | |
einen antiliterarischen Tugendrigorismus genannt werden, waren ja akribisch | |
und boshaft auf die ästhetischen Probleme von „American Dirt“ ausgerichtet. | |
## Ethik und Ästhetik | |
Und auch in der deutschen Diskussion wurde die Qualität des Buches | |
thematisiert, hier aber vor allem zur Verteidigung des Buches. Das gilt | |
nicht nur für den Kritiker des Stern, der sich das Gefühl, von der | |
Erzählung „durchwühlt“ worden zu sein, nicht nehmen lassen möchte, sonde… | |
auch für den Autor der Welt, der die Prosa in „American Dirt“ als | |
„makellos“ bezeichnete. | |
Lässt sich aus dieser eigentümlichen Vermischung ästhetischer und ethischer | |
Urteile ableiten, dass künstlerische Hochwertigkeit möglicherweise | |
Transgressionen anderer Art kompensieren kann? Wäre die kulturelle | |
Aneignung von Cummins als weniger skandalös wahrgenommen worden, wenn sie | |
ein besseres Buch geschrieben hätte? Vielleicht hat man es gar nicht mit | |
einer Darf-sie-das-Debatte zu tun, sondern mit einer eine | |
Kann-sie-das-Debatte. | |
Das führt zu der nächsten großen theoretischen Herausforderung: Was | |
bedeutet Ästhetik überhaupt? Man hat zuweilen den Eindruck, das, was als | |
moralischer Anspruch einer angeblichen Political Correctness die Kunst | |
bedroht, sei extrem überbestimmt; wohingegen das, was mit Kunst gemeint | |
sein könnte, ziemlich vage erscheint. | |
Man sollte die Kontroversen über den angeblichen Gegensatz von Kunst und | |
Moral nutzen, um die Verwobenheit dieser beiden Konstrukte neu zu | |
untersuchen. Ethisches und ästhetisches Versagen liegen näher beieinander, | |
als man denkt. Es gehört ja auch zum täglichen Brot der Literaturkritik, | |
Klischees anzuprangern, das heißt aber auch, den Text an einer Realität zu | |
messen, die er darstellen möchte. | |
## Konventioneller Thriller | |
Allerdings ist nicht jede Form von Literatur in gleicher Weise dazu | |
verpflichtet, Klischees zu vermeiden. Hier verbindet sich die Frage nach | |
dem Zusammenhang von Ethik und Ästhetik mit der Frage nach dem Genre. Die | |
Prosa von „American Dirt“ ist natürlich nicht „makellos“, sondern wenn | |
überhaupt routiniert. Es handelt sich um einen kompetent erzählten | |
konventionellen Thriller, mit durch die Luft pfeifenden Patronen und | |
sinister Hühnchen schmatzenden Bösewichten. Das an sich ist – wie die | |
Beliebtheit des Genres zeigt – offenbar kein Problem. | |
Es wäre aber die Aufgabe einer ethischen Gattungsreflexion herauszufinden, | |
bei welchen Themen es erlaubt ist, daraus einen Thriller zu machen, und bei | |
welchen das zu öffentlicher Empörung führen wird. Daran wiederum lassen | |
sich eine ganze Anzahl an literatursoziologischen Fragen anschließen: Wer | |
profitiert finanziell? Wie steuern die Institutionen des literarischen | |
Lebens den Zugang zur Sichtbarkeit? Inwiefern wird Identität als Ressource | |
im Dienste der Autorinszenierung eingesetzt? | |
All diese Fragen, die im Bereich der Literatur zu den wichtigsten unserer | |
Zeit gehören, werden allerdings nicht dadurch beantwortet, indem man | |
genervt abwinkt oder die immer gleichen Argumente und Fälle wiederholt. Was | |
die Debatte braucht, ist mehr Ratlosigkeit und weniger Sicherheit, mehr | |
Neugier und weniger Aggressivität. | |
4 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Heimatabend-im-Schloss-Bellevue/!5658828 | |
[2] https://www.sueddeutsche.de/kultur/identitaetspolitik-ausverkauf-1.4773328 | |
[3] https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/plus205574231/American-Dirt-Dar… | |
## AUTOREN | |
Johannes Franzen | |
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