| # taz.de -- Evakuierung von Flüchtlingen aus Libyen: Raus aus der Hölle | |
| > Die Lage in Tripolis spitzt sich weiter zu. Nun wollen UN und | |
| > Afrikanische Union rund 500 Flüchtlinge aus Libyen nach Ruanda | |
| > evakuieren. | |
| Bild: Verzweifelte sudanesische Flüchtlinge suchen Schutz vor der UNHCR-Zentra… | |
| Tripolis/Kampala taz | Mohamed Eljahr ist außer sich. Der Helfer des | |
| libyschen Roten Halbmondes hört sich seit 30 Minuten die Klagen von einem | |
| Dutzend Familien an, die ihn lautstark umringen. Während die Frauen | |
| ungerechte Behandlung durch Mohameds Chefin beklagen, packen die Männer das | |
| Hab und Gut in Kartons. Kochgeschirr und Kinderkleidung werden auf | |
| Sackkarren verladen. Die sudanesischen Bewohner der Grundschule in Daha, | |
| einem Viertel der libyschen Hauptstadt Tripolis, ziehen auf die Straße vor | |
| dem Hauptquartier des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR um. „Wir kampieren | |
| dort als Protest, bis man uns als Menschen behandelt“, sagt eine Frau. | |
| Der 28-jährige Libyer mit der roten Weste kann die aufgeregten Menschen gut | |
| verstehen. „Bis vor Kurzem wurden nur Schwarze in Tripolis wie Menschen | |
| zweiter Klasse behandelt. Seit dem Krieg um Tripolis, seit April, richtet | |
| sich die Wut der Tripolitaner auch gegen Syrer oder Sudanesen.“ | |
| Die Nerven in Tripolis liegen blank. Die Kriegsfront ist nur zehn Kilometer | |
| vom Zentrum der Zweimillionenstadt entfernt. Auffahrunfälle werden schnell | |
| zu Schlägereien, Alte betteln vor Restaurants, Jugendgangs hantieren in der | |
| Dämmerung auf der Straße mit ihren Pistolen. Zwischen den Stromausfällen | |
| eilen die Menschen von Laden zu Laden, um ihre Einkäufe zu erledigen. | |
| Migranten trauen sich nach Sonnenuntergang nicht auf die Straße. Eljahr | |
| sagt: „Je mehr libysche Kriegsflüchtlinge in die Stadt kommen, desto | |
| schwieriger wird es für die Migranten aus Subsahara-Afrika.“ Als | |
| Dunkelhäutiger sei man in Tripolis Freiwild. Afrikaner fürchten, auf der | |
| Straße entführt oder ausgeraubt zu werden. | |
| ## Optionen nach der Evakuierung | |
| Doch jetzt soll es für die in Libyen gestrandeten Flüchtlinge aus Afrika | |
| südlich der Sahara Hoffnung geben. Ruandas Regierung unterzeichnete am | |
| Dienstag mit der [1][Afrikanischen Union (AU) und dem UNHCR] eine | |
| Vereinbarung, wonach rund 500 Flüchtlinge nach Ruanda evakuiert werden | |
| sollen. Erweist sich diese erste Evakuierung als erfolgreich, können | |
| weitere folgen, so der UNHCR. | |
| „Das wird Menschenleben retten“, sagt Vincent Cochetel, der für den UNHCR | |
| für Europa zuständig ist und den Deal mit ausgehandelt hat. Nach seinen | |
| Angaben wurden vor allem Flüchtlinge aus Ländern wie Eritrea oder Somalia | |
| ausgewählt, die keine Chance auf eine baldige Rückkehr in ihre Heimat haben | |
| und in Libyen auf der Straße leben. „Wir werden nicht alle Flüchtlinge aus | |
| Libyen retten können, weil wir dafür keine Kapazitäten haben“, so Cochetel | |
| gegenüber der taz. Doch die Ruanda-Option sei ein wichtiger Beitrag, um | |
| „langfristige Lösungen zu suchen“. | |
| In Ruanda kommen die Flüchtlinge in ein Auffanglager im Bezirk Gashora | |
| außerhalb der Hauptstadt, erklärt Flüchtlingsminister Germaine Kamayirese. | |
| Dort gibt es laut UNHCR Kapazitäten und nur geringen Reparaturbedarf. Der | |
| UNHCR überlässt den Evakuierten die Entscheidung, wie er weitergeht. | |
| Entweder sie lassen sich in Ruanda nieder, dann erhalten sie ein | |
| Startpaket: Schulbildung, Chancen auf eine Berufsbildung, | |
| Krankenversicherung. Für diejenigen, die nicht langfristig in Ruanda | |
| bleiben wollen, will der UNHCR Lösungen suchen: die Umsiedlung in die USA | |
| oder Kanada oder die freiwillige Rückkehr nach Hause. | |
| Das Schema folgt dem Modus, den der UNHCR im November 2017 bereits für | |
| Umsiedlungen in die von der EU und der Internationalen Organisation für | |
| Migration (IOM) finanzierten Auffangzentren in Niger angewandt hat. Mit | |
| diesem sogenannten Notfall-Transit-Mechanismus hat der UNHCR seit 2017 rund | |
| 2.800 Flüchtlinge aus Libyen nach Niger, rund 270 nach Rumänien und über | |
| 560 nach Italien evakuiert – aber das war nur ein Bruchteil der Gesamtzahl. | |
| „Wir suchen nicht nach einem einzigen Land oder Kontinent, um die Probleme | |
| zu lösen“, so Cochetel von UNHCR. „Wir fordern vor allem von Libyens | |
| Regierung, ihre Verantwortung zum Schutz dieser Menschen zu übernehmen.“ | |
| ## Kritiker zweifeln an dem Deal | |
| Das kleine Ruanda beherbergt schon rund 150.000 Flüchtlinge, vor allem aus | |
| Kongo und Burundi. Ruandas Präsident Paul Kagame sprach im November 2017 | |
| das Angebot aus, bis zu 30.000 Flüchtlinge aus Libyen aufzunehmen, um das | |
| Leid dort zu beenden. Für Ruandas Präsident, der damals kurz davor war, den | |
| einjährigen AU-Vorsitz zu übernehmen, war dies ein Propagandastreich. Seine | |
| Offerte kam nur wenige Tage nach dem Bekanntwerden von Sklavenmärkten in | |
| Tripolis, auf welchen Flüchtlinge für wenige hundert Dollar von Milizen | |
| verkauft wurden, und direkt vor einem Gipfel zwischen der EU und der AU, | |
| bei welchem erneut über die Migrationsproblematik diskutiert, aber keine | |
| Lösung erzielt wurde. Der energische Panafrikanist Kagame spricht sich | |
| regelmäßig gegen Europa aus und propagiert afrikanische Lösungen für | |
| Afrikas Probleme. | |
| Kritiker zweifeln an dem Deal. Zwischen 2013 und 2015 hat Ruanda bereits | |
| eritreische Flüchtlinge aufgenommen, die in Israel gestrandet waren. Sie | |
| wurden damals unter einem dubiosen bilateralen Abkommen ohne UNHCR-Aufsicht | |
| deportiert. Die meisten Flüchtlinge blieben damals nicht in Ruanda, sondern | |
| zogen weiter ins Nachbarland Uganda, wo es eine große eritreische Gemeinde | |
| gibt. | |
| Die größte Herausforderung bei dem Deal ist die Logistik. Die Evakuierung | |
| sollte ursprünglich vom internationalen Flughafen von Tripolis aus laufen, | |
| doch derzeit schießt die lokale Bukhra-Miliz regelmäßig Raketen auf die | |
| Landebahn. Die nach dem Spitznamen ihres Kommandeurs „Kuh“ benannte Gruppe | |
| fordert die Freilassung von Milizionären, die zusammen mit Kämpfern des | |
| „Islamischen Staates“ (IS) in dem Gefängnis auf dem Flughafengelände | |
| einsitzen. Deswegen, so Cochetel, wird der erste Evakuierungsflug wohl | |
| voraussichtlich in wenigen Tagen aus der rund 200 Kilometer entfernten | |
| Stadt Misrata erfolgen. | |
| ## Die Macht der Milizen | |
| UNHCR und IOM sind zusammen mit dem Innenministerium der relativ machtlosen | |
| libyschen Regierung in Tripolis für zwölf Lager in Westlibyen zuständig, in | |
| denen Migranten festgehalten werden. Trotz einer Kooperationsvereinbarung | |
| wird lokalen UNHCR-Mitarbeitern oft der Zugang verwehrt. „Kleidung oder | |
| Medikamente müssen dann vor dem Eingang abgegeben werden“, sagt ein | |
| UNHCR-Helfer der taz. „Die Milizen sind unantastbar, und wegen des Krieges | |
| ist die Regierung von den bewaffneten Gruppen abhängiger als je zuvor.“ | |
| Die Regierung in Tripolis wehrt sich mit Hilfe der Milizen gegen den | |
| ostlibyschen General Khalifa Haftar, der seit April versucht, die libysche | |
| Hauptstadt zu erobern. Die andauernden Kämpfe am südlichen Stadtrand | |
| verschärfen die Situation der Migranten. Bei einem Besuch der Frontlinie | |
| bei Wadi Rabia südöstlich von Tripolis stieß die taz auf einzelne Gruppen | |
| von Migranten in Bussen. Nur wenige Kilometer von der Frontlinie suchten | |
| rund 50 Afrikaner für die Banyan-Marsous-Brigade, eine Miliz aus Misrata, | |
| in von Drohnen zerstörten Gebäuden nach Blindgängern. | |
| Vor allem Frauen mit Kindern bleiben mittlerweile lieber in den von Milizen | |
| bewachten Lagerhallen, solange sie keine sichere Unterkunft in der Stadt | |
| haben. Die Macht der Milizen könnte noch zum größten Stolperstein für das | |
| UN-Evakuierungsprojekt werden. Mohamed Eljahr mahnt: „Die neben den | |
| Gefängnissen stationierten Milizionäre lassen ihre Gefangenen oft nur gegen | |
| Geld oder nach Zwangsarbeit frei. Ein leeres Migrationsgefängnis bedeutet | |
| auch leere Milizenkassen.“ | |
| 10 Sep 2019 | |
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| [1] /Fluechtlinge-in-Libyen/!5606847 | |
| ## AUTOREN | |
| Mirco Keilberth | |
| Simone Schlindwein | |
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