# taz.de -- Europawahlen ab 16: Jung, europäisch, planlos | |
> Am Sonntag dürfen erstmals auch 16- und 17-Jährige wählen. Ist das ein | |
> Chance für die Demokratie? Und was sagen junge Menschen dazu? | |
Bild: In mehreren Ländern Europas darf ab 16 Jahren gewählt werden, in Belgie… | |
COTTBUS/BERLIN taz | Am sandigen Spreeufer in Cottbus sitzt eine Gruppe von | |
sieben Jugendlichen und raucht. Hier treffen sie sich regelmäßig | |
donnerstags, um sich im Rahmen eines offenen Treffs auszutauschen. Sie sind | |
18 bis 21 Jahre alt. In diesem Text wollen sie nur mit Vornamen vorkommen. | |
Politik spielt sich für sie vor allem im unmittelbaren Umfeld ab. Kinder | |
und Jugendliche sollten einen Ort für sich haben, für den sie ihre eigenen | |
Entscheidungen treffen können, sagt etwa der 19-jährige Essi. | |
Mit einem selbstverwalteten Jugendclub soll so ein Ort entstehen. Dafür | |
setzt er sich ein. Er selbst habe sich noch nicht politisiert. Damit meint | |
er, im Sinne einer Partei. Klar ist für ihn und die anderen Jugendlichen | |
nur, dass sie die Alternative für Deutschland scheiße finden. Die meisten | |
in der Gruppe gehen am Sonntag zum ersten Mal wählen. Gleich auf zwei | |
Wahlzetteln dürfen sie ihre Kreuze setzen, für Europa und für die | |
Kommunalwahlen in Brandenburg. | |
[1][Die Gruppe der Erstwähler*innen] war noch nie so groß wie dieses | |
Jahr zur Europawahl. Über vier Millionen sind es insgesamt. Grund dafür | |
ist, dass zum ersten Mal bundesweit 16- und 17-Jährige ihre Stimme für | |
Europa abgeben dürfen. Die zwei Jahrgänge machen 1,4 Millionen | |
Wahlberechtigte aus. Die einen sehen das neu gewonnene Wahlrecht [2][als | |
Chance für junge Menschen], sich an der Demokratie zu beteiligen. Andere | |
stellen ihre Reife infrage und haben Sorge vor dem Einfluss rechtsextremer | |
Kräfte. Wer hat recht? Und was sagen junge Menschen dazu? | |
„In der Schule hatten wir nur eine Stunde Unterricht zu Europa“, sagt | |
Arthur, der mit den anderen Jugendlichen am Spreeufer sitzt. Der 18-Jährige | |
geht noch zur Schule, nächstes Jahr macht er sein Abitur. Viel über | |
europäische Politik hätten sie im Unterricht nicht gelernt, erzählt er. | |
Nur, dass ihr Lehrer kein Fan von linker Politik sei. Die anderen nicken | |
zustimmend. Im Gespräch mit den Jugendlichen tauchen zwei Themen immer | |
wieder auf: Sie wollen mehr Bildung und mehr Selbstwirksamkeit erfahren. | |
Die Jugendlichen haben nicht das Gefühl, dass sie gut auf die Europawahlen | |
vorbereitet wurden. Simple Fragen, wie „Wo gehe ich wählen?“ oder „Welche | |
Partei steht für welches Programm?“, wurde ihnen im Unterricht nicht | |
beantwortet. | |
Auch die Berliner Politikwissenschaftlerin Sabine Achour sieht die Schulen | |
in der Pflicht, mehr auf die Interessen junger Menschen einzugehen. Sie | |
beobachtet, dass der Unterricht insgesamt und oft auch vor einer Wahl vor | |
allem aus Institutionenkunde besteht. Ein guter Unterricht aber müsse nah | |
dran sein an den aktuellen politischen Debatten. „Das funktioniert | |
natürlich nicht, wenn man nur Unterricht mit einem Schulbuch macht, das | |
zehn Jahre alt ist“. Gleichzeitig betont Achour, dass bereits viele | |
Lehrkräfte einen tollen Politikunterricht oder gute Angebote für politische | |
Bildung machen. | |
Nicht genügend Politiklehrkräfte | |
Tatsächlich haben viele Bundesländer in den vergangenen Jahren die | |
politische Bildung gestärkt. Eine regelmäßige Untersuchung der Universität | |
Bielefeld zeigt jedoch, dass politische Bildung an deutschen Schulen immer | |
noch schwächer vertreten ist, als Geschichte oder Geografie. Die | |
Politikwissenschaftlerin Achour begrüßt, dass viele Landesregierungen die | |
Leerstelle mittlerweile erkannt hätten und politische Bildung stärken. | |
Andere Bundesländer hingegen hätten andere Prioritäten und stärkten | |
stattdessen die affirmative Wirtschafts- oder die Finanzbildung. Außerdem | |
bestünde häufig das Problem, dass die Schulen oft nicht genügend | |
ausgebildete Politiklehrkräfte finden. Meistens übernähmen dann Ethik- oder | |
Geschichtslehrer das Fach. | |
Dass es sich lohnt, in Lehrer*innen zu investieren, die Schüler*innen | |
für Demokratie begeistern, hat auch Barbara Becker gemerkt. Sie ist | |
Lehrerin für Biologie und Geschichte am Windeck-Gymnasium Bühl in | |
Baden-Württemberg. Zusammen mit Schüler:innen hat sie Anfang Mai eine | |
Demonstration für demokratische Werte in ihrer Stadt organisiert. „Nach der | |
Demonstration haben mir Schüler:innen erzählt, davor wären sie nicht | |
wählen gegangen, jetzt schon. So ein Erweckungserlebnis braucht es.“ | |
Dass junge Menschen jetzt ab 16 Jahren wählen können, sieht sie positiv: | |
„Ab 16 ist man alt genug, sein Leben in die Hand zu nehmen, um nach einem | |
mittleren Schulabschluss berufliche Entscheidungen zu treffen.“ Deshalb | |
sollte es auch möglich sein, eine politische Entscheidung zu treffen. Das | |
sieht die Bundesschülerkonferenz ähnlich: Anlässlich der Europawahlen | |
fordert sie, das Wahlrecht ab 16 für alle Wahlen zu ermöglichen. In elf | |
Bundesländern dürfen Jugendliche ab 16 bereits bei den Kommunalwahlen | |
mitbestimmen. In sieben Bundesländern – darunter auch Brandenburg – gilt | |
das auch für die Landtagswahlen. | |
Dadurch entsteht ein Flickenteppich, in dem 16- und 17-Jährige | |
unterschiedliche demokratische Rechte in Deutschland haben. Der | |
Politikberater Robert Vehrkamp sieht diesen kritisch. „Wie soll der | |
Gesetzgeber begründen, dass ein Jugendlicher beispielsweise aus | |
Brandenburg, der mit 16 bei Europa- und Landtagswahlen teilgenommen hat, | |
mit knapp 18 bei der Bundestagswahl nicht wählen darf?“, fragt er. Das sei | |
nicht nachvollziehbar und nehme Jugendlichen das Grundrecht auf | |
demokratische Partizipation. | |
## SPD-Dönerpreisbremse bei den U18-Wahlen | |
Teilhabe üben, konnten junge Menschen zumindest schon mal bei [3][den | |
U18-Wahlen,] organisiert von dem Deutschen Bundesjugendring vor den | |
Europawahlen. In allen Bundesländern gaben vom 27. bis zum 31. Mai | |
insgesamt 60.000 Kinder und Jugendliche bei ehrenamtlich eingerichteten | |
Wahlstationen ihre Stimme ab. Die meisten Stimmen gingen an die SPD, dicht | |
gefolgt von der Union, beide lagen bei etwa 19 Prozent. Ähnlich gleichauf | |
lagen die Grünen und AfD, sie erreichten um die 13,5 Prozent. Danach folgte | |
die Linke, mit viel Abstand die Tierschutzpartei und die FDP. Insgesamt | |
gingen etwa 18 Prozent an Kleinstparteien. | |
Dass die SPD so gut abschnitt, könnte mit ihrem Wahlkampf zusammenhängen. | |
Sie setzte auf junge Themen und suchte das Gespräch mit jungen Menschen. | |
Die Berliner SPD nahm bei 40 Schulen an Debatten teil. Und nachdem im Netz | |
die Dönerpreisbremse getrendet war, nahm die Partei das Thema für sich auf. | |
Kanzler Olaf Scholz beantwortete Fragen dazu auf Tiktok. Der Döner solle | |
maximal 3 Euro kosten, forderte er. In Kooperation mit bestimmten | |
Dönerläden organisierten sie Partei-Infostände, boten Döner zum | |
entsprechenden Preis an und besprachen dazu das Thema Inflation. In der | |
Vergangenheit war die Partei, genauso wie die CDU, besonders bei den | |
älteren Jahrgängen stark. | |
## Rechtsruck U18 – wirklich? | |
Große Unterschiede gab es bei den U18-Wahlen zwischen den ostdeutschen und | |
westdeutschen Bundesländern. In Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen, | |
Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern landete die AfD auf dem ersten Platz. | |
In den vergangenen Monaten wurde immer wieder das Verhältnis von jungen | |
Menschen zur AfD diskutiert. Es ging um die Videoplattform Tiktok und die | |
AfD, die dort bislang die Nase vorn hat, im Kampf um die Gunst der | |
Jüngeren. Aufsehen erregte die [4][Jugendstudie von Simon Schnetzer] und | |
Klaus Hurrelmann, die einen Rechtsruck unter Jugendliche beobachtet mit | |
AfD-Zustimmungswerten um die 22 Prozent. | |
Später erhielt die Studie scharfe Kritik. Zu wenig sei der Zeitpunkt der | |
Befragung thematisiert wurden. Diese fand in Teilen noch statt, als die AfD | |
bundesweit ihr Allzeithoch erreichte. Darüber hinaus hätten in der | |
Jugendstudie 25 Prozent der Befragten angegeben, zwar wählen zu wollen, | |
aber noch nicht zu wissen, wen, führt Vehrkamp als weiteren Kritikpunkt an. | |
Sie waren in der Statistik zur Parteienpräferenz nicht mit eingeschlossen. | |
Mit ihnen inkludiert, liegt die AfD nur bei 14 Prozent. Ein ähnliches | |
Ergebnis wie bei der Gesamtbevölkerung: Bei der letzten Umfrage von | |
Infratest Dimap Ende Mai lag die AfD bei 14 Prozent. | |
Die Angst vor einem Rechtsruck begleitet auch die Jugendlichen in Cottbus. | |
Sie blicken besorgt auf dieses Jahr. Die Europawahlen sind für sie mit | |
Blick auf kommenden Sonntag gar nicht die wichtigsten. „Die Kommunalwahl | |
ist für mich gleich wichtig, wenn nicht wichtiger“, sagt der 19-jährige | |
Max. „Für mich ist sie wichtiger“, fügt Anna, ebenfalls 19 Jahre alt, an. | |
Max erinnert an den Rechtsextremisten Lars Schieske, der vergangenen Sommer | |
für die AfD im Kampf um das Amt zum Oberbürgermeister bis in die Stichwahl | |
kam. Mit großem Abstand konnte sich dann doch der SPD-Gegenkandidat | |
durchsetzen. Damals hätte ganz Brandenburg auf die Wahl geschaut. „Im | |
Lokalen sind die Folgen einer Wahl viel absehbarer“, sagt er. Da scheint | |
Europa weit weg. | |
6 Jun 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Wahlalter-mit-16/!6015444 | |
[2] /Waehlen-mit-16/!6011937 | |
[3] https://www.dbjr.de/artikel/das-wahlergebnis-der-u18-europawahl-steht-fest-… | |
[4] https://simon-schnetzer.com/blog/jugend-in-deutschland-2024-veroeffentlichu… | |
## AUTOREN | |
Adefunmi Olanigan | |
Alexandra Kehm | |
Ralf Pauli | |
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