| # taz.de -- Europäischer Filmpreis 2019: Könnte alles so schön sein | |
| > Die Beiträge zu den 32. European Film Awards wirkten jünger als zuletzt, | |
| > strotzen sie doch vor juvenilem Elan vor und hinter der Kamera. | |
| Bild: Olivia Colman (r) als Queen Anne und Rachel Weisz als Lady Sarah in einer… | |
| Europäer*innen unterscheiden sich bekanntlich in vielen Dingen, auch im | |
| Humor. Manchen traut man mehr davon zu, anderen eher weniger. Es freut | |
| einen darum diebisch, dass die 32. European Film Awards (EFA), deren | |
| Verleihung in diesem Jahr wieder in Berlin (wo sie einst von einer Gruppe | |
| Filmmenschen um Wim Wenders ins Leben gerufen wurden) stattfanden, sich | |
| ausgerechnet Dietrich Brüggemann als künstlerischen Leiter ans Bein banden: | |
| Wenn man bei dem Wahlberliner Regisseur und Drehbuchautor eines nicht | |
| findet, dann ist das dröge germanische Witzischkeit. | |
| So begann die Zeremonie im Berliner Haus der Festspiele angenehm anarchisch | |
| mit bühnenfüllenden Bildern von Europas Schreckensszenarien: Müllberge, | |
| brennende Straßen, kriegerischen Auseinandersetzungen, vor denen die | |
| absurden Durchhalteparolen der Moderatorinnen Anna Brüggemann und Aistė | |
| Diržiūtė umso eindrücklicher klangen. Dem gesamteuropäischen Schlamassel | |
| mit Sarkasmus zu begegnen, ironisch auf „the world keeps turning“ | |
| hinzuweisen, ist eh die einzige Möglichkeit – gerade in den Kulturbetrieben | |
| vieler europäischen Länder riecht die Stimmung wie 5 nach 12. Egal ob in | |
| der Klima-, Gender-, Gesellschafts- oder Kulturpolitik. | |
| Dabei könnte doch alles so schön sein in Europa, mit all diesen | |
| Wahnsinnsfilmen: [1][Giorgos Lanthimos’ „The Favourite“], eine brillante, | |
| tiefschwarze Obduktion des Adels im 18. Jahrhundert, wurde als „European | |
| Film“, die beste Regie, die beste Hauptdarstellerin Olivia Colman, die | |
| beste Comedy, die beste Kamera, den besten Schnitt und das beste Kostümbild | |
| mit Preisen zugeschüttet – kein bisschen abwechslungsreif, diese | |
| Kulmination, aber so ist es eben, wenn 2.500 Mitglieder über 60 Filme | |
| gucken sollen. Und das dann vielleicht nicht immer schaffen. Dass [2][Nora | |
| Fingscheidts faszinierender Berlinale-Gewinner „Systemsprenger“] über die | |
| Aggressionen eines verlassenen kleinen Mädchens dagegen leer ausging, ist | |
| traurig – doch der Film macht seinen Weg, auch ohne Riesen-Schauspielnamen. | |
| Den Preis für das Beste Drehbuch bekam Céline Sciamma für das expressive | |
| [3][„Porträt einer jungen Frau in Flammen“]. Antonio Banderas’ intensive | |
| Darstellung als Pedro Almodóvars Alter Ego in [4][„Leid und Herrlichkeit“] | |
| (und nicht Alexander Scheer für „Gundermann“) wurde als „Europäischer | |
| Schauspieler“ honoriert. Zum ersten Mal (na endlich) wurde zudem eine | |
| europäische Serie ausgezeichnet, vielmehr eine deutsche: [5][„Babylon | |
| Berlin“] konnte sich über einen weiteren Award für das überfüllte Regal | |
| freuen. | |
| „Man kann dazu nicht bügeln!“, erklärte Laudator Rosa von Praunheim die | |
| Serie. Und egal wie man zu Tom Tykwers, Henk Handloegtens und Achim von | |
| Borries’ opulenter Interbellum-Nahaufnahme steht: Die Serie ist hoffentlich | |
| ein weiterer Beweis dafür, dass die öffentliche Akzeptanz für | |
| nichtamerikanische Serien steigt. Denn die Offenheit, sich irre, | |
| historische, amüsante und innovative Serien anzuschauen, steht vor deren | |
| Erfolg. Sie sind längst da – wir, das Publikum, müssen sie nur | |
| wertschätzen. | |
| ## Kollektive dünnere Haut | |
| Jene europäische Wertschätzung ist in diesem Jahr bei den EFA auch in ihren | |
| Details unterhaltsam – die Briefumschläge und Statuetten werden in | |
| Pizzapackungen, von Einhörnern (beziehungsweise Menschen im | |
| Einhorn-Doppelkostüm!), ekelhaften Clowns, Modellflugzeugen und Fahrrädern | |
| ausgeliefert, immer wieder mixt Brüggemann Theaterkulisse, Performance, | |
| Amateurgetanze, überkandidelte Oper (eine Diva singt eine Arie über den | |
| Lifetime-Achievement-Preisträger Werner Herzog) und Videobilder, sodass | |
| eine Verbindung zwischen dem, warum man hier ist – den Filmen –, und den | |
| darin enthaltenen haptischen Erfahrungen entsteht. Schließlich ist alles, | |
| was visuell anstatt im Dialog ausgedrückt wird, erstens glorioser, zweitens | |
| hübscher und macht drittens im Filmbereich Sinn. | |
| Im Ganzen, das mag an den Reden, dem Bewusstsein der Situation, der | |
| kollektiven dünnen Haut sämtlicher Beteiligter liegen, wirkten die 32. | |
| Europäischen Filmpreise jünger als in den letzten Jahren, strotzen – trotz | |
| Herzog, Wenders und Konsorten – vor juvenilem Elan vor und hinter der | |
| Kamera. Dazu klangen sie auf eine unangestrengte Art politisch. Und wie | |
| viel Zündstoff und Wahrheit tatsächlich in Werken wie „Les Misérables“ o… | |
| eben „Systemsprenger“ steckt, sollte sich jede*r Europäer*in bitte selbst | |
| anschauen. Denn (europäische) Solidarität entsteht nur aufgrund von | |
| gemeinsamen Legenden. | |
| 8 Dec 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jenni Zylka | |
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