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# taz.de -- Essays von Jean Améry zu Antisemitismus: Den Toten die Treue halten
> Der große Essayist Jean Améry hatte ein genaues Gespür dafür, wann
> Antizionismus in Antisemitismus umschlägt. Seine Essays sind leider
> wieder aktuell.
Bild: Machte es sich nicht leicht: Jean Améry, ein Melancholiker auf „schwan…
Der 7. Oktober mag ein trauriger Anlass sein, eine kleine Auswahl von
Artikeln Jean Amérys über sein Judentum und den Antisemitismus in der
Linken neu aufzulegen. Aber das schmale Bändchen mit dem Titel „Der neue
Antisemitismus“ macht in den seither gegen Israel ins Feld geführten
Argumenten – wenn man sie denn so nennen mag, [1][handelt es sich doch viel
mehr um Vorwürfe und Hass] –, eines deutlich: Nämlich, dass mit ähnlicher
Vehemenz bereits 1969 und in den folgenden Siebzigerjahren das
Existenzrecht Israels bestritten wurde.
Das war für Améry unerträglich, musste Israel doch vor dem „finsteren
Hintergrund der Katastrophe“, vor dem Hintergrund sechs Millionen
ermordeter Juden, gesehen werden. Israel sollte der „siebten Million“, wie
der Historiker Tom Segev die Überlebenden nannte, ein sicherer Zufluchtsort
sein.
Das war für Améry eine unbestreitbare Selbstverständlichkeit. Nicht aber
für diejenigen, denen er sich eigentlich zugehörig fühlte, der Linken, die
damals begann, von „nationaler Identität“ zu reden und die PLO für eine
nationale Befreiungsbewegung gegen den israelischen Imperialismus zu
halten.
Améry erinnert in seinem Essay daran, dass die Juden – und gerade sie –
„ein Element der fruchtbaren Unordnung“ seien. Es seien die Arbeiten der
Frankfurter Schule gewesen, später die „Sartrianer“, die Strukturalisten,
die „liberals“ in den USA, die immer wieder „versteinerte Strukturen“
aufgebrochen hätten.
## Der rabiate Antizionismus
Zudem habe es nie einen Zweifel daran gegeben, dass die jüdischen Siedler
eine demokratisch-sozialistische Gesellschaft errichten wollten. „Es kann
nicht, darf nicht sein“, schreibt Jean Améry fordernd und eindringlich,
„dass die Nachfahren der Heine und Börne, der Marx und Rosa Luxemburg,
Erich Mühsam, Gustav Landauer es sind, die den ehrbaren Antisemitismus
verbreiten, denn in den Antisemitismus mündet notwendigerweise der rabiate
Antizionismus ein, [2][der für jeden Juden, wo immer er wohne, welch
politischer Meinung er anhänge, eine tödliche Drohung] ist.“
Der Bezug auf die Säulenheiligen der damals jungen Linken aber verpufft,
denn die Katastrophe, die erst noch kommen sollte, konnte niemand von
ihnen vorhersehen. 1969 aber war Auschwitz noch nicht lange her, und es
war nicht schwer, sich vorzustellen, was sein würde, wenn Israel zerstört
werden würde, denn das hieße, die Juden würden wieder zu „Wanderjuden“, …
staatenlosen und damit rechtlosen Flüchtlingen, die als Bittsteller
behandelt würden oder als „Paria“, als die Hannah Arendt sie bezeichnete.
Ein solcher war auch der 1912 geborene Hans Mayer, wie Jean Améry
ursprünglich hieß, bevor er seine verhasste österreichische Herkunft nach
dem Krieg in einem Anagramm unkenntlich machte. In einem kurzen Aufsatz von
1978 mit dem Titel „Mein Judentum“ beschreibt er, dass seine Sozialisation
nicht das Geringste mit dem Judentum zu tun hatte. Sein Vater war
„Volljude“, der im Ersten Weltkrieg fiel, als er vier war. Seine Mutter war
Christin, das heißt, dem Judentum zufolge war Améry gar kein Jude, aber die
nationalsozialistischen Rassegesetze machten ihn zu einem.
Obwohl er mit der jüdischen Religion nie etwas zu tun hatte und auch nie
etwas zu tun haben wollte, wurde ihm bereits als Jugendlicher durch die
Lektüre von „Mein Kampf“ und der „Nürnberger Rassegesetze“ klar, dass…
einer „minderwertigen Rasse“ angehörte, und zwar nicht nur für die Nazis,
sondern auch „für die Mehrheit aller Deutschen und Österreicher“. Ein Jude
ist, den die anderen als Juden ansehen, schrieb Sartre, und „dies war
präzise mein Fall“, so Améry.
## Für Israel, gegen Mosche Dajan
Dennoch hat die zwangsweise Zuordnung zum Judentum Améry nie dazu gebracht,
dieses Schicksal anzunehmen – weder wollte er in diesem Land leben, noch
hieß er „den religiös getönten Nationalismus“ in Israel gut, und [3][Mos…
Dajans] triumphales Auftreten war ihm zuwider. Und dennoch war er aus
seiner Erfahrung heraus „den Menschen dieser heillosen Erde, die allein
sind, verlassen von der Welt, unablösbar verbunden“.
Israel war für ihn keine Verheißung, und als Heiliges Land hatte es für ihn
keine Bedeutung, es ist „nur Sammelplatz von Überlebenden, ein
Staatsgebilde, wo jeder einzelne Einwohner noch immer und auf lange Zeit
hin um seine physische Existenz bangen muss“. Etwas pathetisch, aber
durchaus ergreifend, fügt er hinzu: „Mit Israel solidarisch sein, heißt für
mich, den toten Kameraden die Treue bewahren.“
Seitdem er 1969 für Israel Partei ergriffen hatte, betrachteten ihn seine
politischen Freunde als „Abtrünnigen“. Er wirft ihnen vor, es sich mit
Prinzipientreue leicht zu machen und nicht bereit zu sein, ihre
„Dogmen-Krücken“ über Bord zu werfen. Er hingegen hat nicht die
Möglichkeit, sich an diesen festzuhalten, denn für die einen ist er ein
Jude, der parteiisch ist, während die anderen, die ein Judentum haben, ihm
das Recht absprechen, sich einzumischen. Und warum sollten sie auch auf ihn
hören?
Améry beschreibt seine Gemütslage als die eines Melancholikers. Es ist eine
ausweglose Situation, denn er spürt, dass seine bedingungslose Solidarität
mit Israel als sicherem Zufluchtsort auch heißt, mit dem menschlichen Leid
konfrontiert zu werden, das das Staatsgebilde Israel für andere bedeutet.
## Noch immer ein Zufluchtsort
Und das ist vielleicht das Großartige an Amérys kurzen Reden und Aufsätzen,
denn sie erinnern daran, wie weit entfernt sie von der selbstsicheren
Gewissheit sind, mit der ein leider großer Teil der internationalen Linken
nach dem 7. Oktober Vorwürfe gegen Israel erhebt, weil für sie alles im
Vorherein feststeht, und noch immer vollkommen außer Acht lässt, dass
Israel noch immer ein Zufluchtsort für die in der Welt verfolgten Juden
ist.
Jenen ist der „schwankende Grund“, auf dem Améry steht, und die
Ungewissheit, die ihn quält, fremd.
28 Jan 2024
## LINKS
[1] /Ueber-Philosophy-for-Palestine/!5969264
[2] /9-November-diesmal-1969/!5637377
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Mosche_Dajan
## AUTOREN
Klaus Bittermann
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