# taz.de -- Philosoph über Hannah Arendt: „Sie war kein unnahbares Genie“ | |
> Thomas Meyers kürzlich erschienene Biografie dokumentiert auch die | |
> aktivistische Seite der Philosophin Hannah Arendt. Das gefällt nicht | |
> allen. | |
Bild: Nahbare Aktivistin: Arendt-Foto in der Ausstellung „Hannah Arendt und d… | |
taz: Herr Meyer, zeigt Ihre kürzlich erschienene Biografie eine ganz neue | |
Hannah Arendt? | |
Thomas Meyer: Das hängt vom Auge des Betrachters ab. Mein Ziel war, der | |
Arendt-Community möglichst viel Material anzubieten, ohne mich gegen die | |
bisherigen Auslegungen zu wenden. Ich wollte eine [1][Hannah Arendt] | |
zeigen, die das Wechselspiel zwischen Denken und Handeln mit ihrem eigenen | |
Leben beglaubigt hat. Deshalb habe ich mich auf zwei Lebensabschnitte | |
konzentriert, die mir nicht nur unerforscht schienen, sondern in denen sich | |
auch die Hannah Arendt, die wir heute lesen, herausbildete: die Jahre im | |
Pariser Exil nach ihrer Flucht vor dem NS-Regime und die ersten Jahre in | |
New York ab 1941. | |
Welche neuen Facetten offenbaren Sie? | |
Neu ist vor allem die – auf bislang unbekannten Quellen basierende – | |
Dokumentation ihrer Tätigkeit in der „[2][Kinder -und Jugend-Alija]“ in | |
Paris, wo sie sich zwischen 1935 und Ende 1939 maßgeblich an der Ausbildung | |
von Kindern und Jugendlichen und deren Rettung nach Palästina beteiligte. | |
Diese Tatsache war zwar bekannt, aber bis dato nicht dokumentiert. Mein | |
zweiter Fokus richtet sich auf die Entstehungsgeschichte ihres Hauptwerks | |
„Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“. Ich dokumentiere erstmals ihre | |
Zusammenarbeit mit jüdischen ForscherInnen, die ihr halfen, diese große | |
Erzählung zu schreiben. | |
Warum war es wichtig, genau diese beiden Zeiträume zu dokumentieren? | |
Die Hannah-Arendt-Forschung bestand über viele Jahre in klassischer | |
Textdeutung. Meine Überlegung war: Warum nicht tun, was man mit allen | |
anderen Persönlichkeiten auch tut? Erst einmal Quellenarbeit leisten. | |
Lief die Recherche reibungslos? | |
Es war eine teils mühsame, aber immer auch fruchtbare akribische | |
Archivarbeit. Die härteste Nuss waren die Kinder- und | |
Jugend-Alija-Dokumente. Da hatte ich schon fast aufgegeben, als mich ein | |
Zufallsfund in einem Archiv der Harvard University auf ein Jerusalemer | |
Archiv zurückverwies. Daraufhin bat ich eine Freundin, dort zu suchen, | |
woraufhin sie mir unglaubliche 300 Dokumente schickte. Ähnlich wichtig sind | |
die seit Kurzem in Paris zugänglichen Dokumente der französischen | |
Fremdenpolizei. Sie enthalten die Fluchtgeschichten von Abertausenden | |
Menschen, auch von Hannah Arendt. | |
Warum hatte man die Pariser Jahre bis dato kaum im Blick? | |
Weil Philosophen und politische Theoretiker im Laufe der Jahrhunderte eine | |
Immunisierungsstrategie ausgebildet haben, indem sie dem Leben keinerlei | |
Einfluss auf das Werk zugestehen möchten. Hannah Arendt empfand das schon | |
immer als fromme Illusion, mit der man die Bedeutung des Fachs | |
hervorzuheben suchte. Von der engen Verflechtung von Biografie und Werk war | |
sie spätestens seit ihrem [3][Rahel-Varnhagen-Buch] überzeugt. | |
Wurde diese Verbindung in allen vorigen Schriften über Arendt geleugnet? | |
Ja! Hannah Arendt galt zwar immer schon als couragierte Frau, die es mit | |
der männlich geprägten Wissenschaftswelt aufnahm und die im legendären | |
Interview mit Günter Gaus 1964 selbstbewusst ihre Lebens- und | |
Denkgeschichte ausbreitete. Sie wurde zur exemplarischen Intellektuellen | |
des 20. Jahrhunderts, gar als „Genie“ gefeiert. Dass sie, wie sie selbst | |
schreibt, morgens Kinder weckte, ihnen Essen machte, sie unterrichtete und | |
1935 mit ihnen nach Haifa segelte, dass sie eben nicht diese wie vom Himmel | |
gefallene, unerreichbare „Grande Dame“ war – dem maß man keinerlei | |
Bedeutung zu. Genau das habe ich zu erzählen versucht, ohne Hannah Arendts | |
Leistungen infrage zu stellen. | |
Sind Sie wegen Ihres Buchs kritisiert worden? | |
Wer sich zu Arendt äußert, der muss mit Gegenwind rechnen! Sehr viele sind | |
unglaublich neugierig auf die Hannah Arendt, die ich zeige. Andere wollen | |
ihr lange gepflegtes Arendt-Bild nicht aufgeben. Die größte Irritation hat | |
allerdings [4][mein Vorwort] ausgelöst, in dem ich sage: Mich interessiert | |
die [5][Aktualisierung] von Hannah Arendt nicht. Es vergeht ja kaum ein | |
Tag, an dem sich nicht ein Medium – auch die taz – auf Arendt beruft, als | |
sei ihr Werk der Schlüssel für sämtliche aktuellen Probleme. Aber mich | |
interessiert Hannah Arendt in ihrer Zeit – und nicht, was sie etwa über | |
Corona-LeugnerInnen oder Putin denken würde. Das hat so offen noch | |
niemand gesagt, und ich verstehe die Irritation. | |
Aber ist nicht gerade der von Ihnen dokumentierte Aktivismus hoch aktuell? | |
Das kann man so sehen. Hannah Arendt selbst hat ihn allerdings extremst | |
versteckt. Diese Lebensepisode erwähnt sie überhaupt nur einmal – in jenem | |
[6][Interview mit Gaus]. Politischer Aktivismus war ihr in späteren Jahren | |
eher suspekt. Sie war niemand, der sagte: „Großartig, diese jungen Frauen | |
und Männer tun es mir nach!“ Ihr war sehr bewusst, dass ihr Aktivismus in | |
einer historischen Sondersituation stattgefunden hatte. Aber man kann in | |
Hannah Arendts Nachfolge durchaus sagen: Jawohl, PhilosophInnen und | |
Intellektuelle sollten nicht nur wohlfeil Zeitungsspalten füllen und offene | |
Briefe unterschreiben, sondern konkret eingreifen. | |
19 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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