# taz.de -- Eröffnung 6. Herbstsalon im Gorki: Geschichte ist nie zu Ende | |
> Im Gorki Theater nimmt der 6. Berliner Herbstsalon „Lost – You Go Slavia�… | |
> mit viel bildender Kunst den postjugoslawischen Raum in den Blick. | |
Bild: Spielt eine alte Partisanenhymne, der Junge am Bahnhof von Sarajevo in Da… | |
BERLIN taz | Auf der Stirn des schnauzbärtigen Mannes, der uns auf dem | |
Schwarzweiß-Porträt mit müden Augen entgegenstarrt, klebt eine | |
jugoslawische 100-Dinar-Note. Unter dem Bild steht „Pjevaj!“, kroatisch für | |
„Sing!“. Der Mann ist Mladen Stilinović, einer der bekanntesten | |
Künstler:innen des ehemaligen Jugoslawiens. Seine Collage aus dem Jahr | |
1980 zitiert die Tradition, Unterhaltungskünstler:innen mit Spucke | |
einen Geldschein auf die Stirn zu kleben. | |
Der mittlerweile verstorbene Stilinović kommentierte, wie seine Zunft | |
zwischen ideologischer und kommerzieller Vereinnahmung aufgerieben wird, | |
und auch die Geopolitik: Auf dem Geldschein ist die Skulptur einer | |
Friedensreiterin des Bildhauers Antun Augustinčić abgebildet, die Tito den | |
Vereinten Nationen schenkte. | |
Nach Titos Tod im Entstehungsjahr der Arbeit währte der Frieden nicht | |
lange, die sozialistische Utopie des blockfreien Jugoslawiens starb mit | |
ihrem Kopf. Bald suchte eine Hyperinflation die Region heim und [1][ab 1991 | |
wüteten die Jugoslawienkriege]. Schließlich zerfiel die Republik in | |
unabhängige Staaten. | |
Stilinovićs Arbeit hängt jetzt im Parkettfoyer des Gorki Theaters und | |
bildet dort den Mittelpunkt der dreiteiligen Ausstellung „Lost – You Go | |
Slavia“ [2][des 6. Berliner Herbstsalons]. Sie nimmt in den kommenden | |
Wochen flankiert von Theaterstücken, Gesprächen und Filmen den | |
postjugoslawischen Raum in den Blick. Das Gorki hat es mittlerweile zur | |
Tradition gemacht, das politische Zeitgeschehen in diesem Format mit Werken | |
der bildenden Kunst kritisch zu kommentieren. Wie schon bei den vorherigen | |
Ausgaben gelingt das dem kuratorischen Team um Intendantin Shermin Langhoff | |
wieder hervorragend. | |
## Auseinandersetzung mit Kriegsverbrechen | |
Für das Projekt „Four Faces of Omarska“ recherchiert [3][Milica Tomić] se… | |
2009 in Zusammenarbeit mit weiteren Künstler:innen aufwendig zur Stadt | |
Omarska im Nordwesten Bosnien-Herzegowinas. Im sozialistischen Jugoslawien | |
wurde hier Eisenerz abgebaut. In dem Bergbaukomplex betrieben 1992 | |
bosnisch-serbische Streitkräfte ein Folter- und Todeslager, Hunderte | |
jugoslawische Muslim*innen, Kroat*innen und andere politische Gefangene | |
kamen dort um. | |
Mit Investitionen eines internationalen Konzerns wurde später der | |
kommerzielle Bergbau wieder aufgenommen. Und makabererweise sollte der Ort | |
auch zum Schauplatz eines staatlich koproduzierten Historienblockbusters | |
werden. | |
Tomić treiben [4][die Kriegsverbrechen der frühen 1990er Jahre] um. An die | |
in Omarska begangenen erinnert heute nicht einmal eine Gedenktafel. Gleich | |
zu Beginn ihrer Ausstellung im nüchternen „Kiosk“, einem großen Raum in | |
einem separaten, modernen Gebäude neben dem historischen Theaterbau, steht | |
ein Modell des Lagers, das in den Prozessen am Internationalen | |
Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag verwendet wurde. | |
An der Wand gegenüber können sie die UN-Resolution 1820 lesen, die den | |
Einsatz sexualisierter Gewalt als strategisches Kriegsmittel ächtet – | |
[5][auch in Omarska wurden Frauen vergewaltigt]. Welche Rolle globales | |
Kapital für die lokale Politik spielt und wie es die Kriege beeinflusste, | |
erläutert in einem Video ein Wissenschaftler. Viele weitere künstlerisch | |
bearbeitete Dokumente geben Aufschluss über die Geschichte des Ortes und | |
stellen Bezüge zur Gegenwart her, etwa in Landkarten eingezeichnete | |
Fluchtwege, die an die heutige Balkanroute und gewaltsame Pushbacks denken | |
lassen. | |
## Prunkräume und knarzende Drehbühne | |
Auch Danica Dakić widmet sich in der „Zenica Trilogy“, mit der sie [6][2019 | |
bei der Venedig Biennale] den bosnischen Pavillon bespielte, einem | |
exemplarischen Ort: dem bosnischen Zenica. Die Industriemetropole war einst | |
Musterbeispiel sozialistischer Architektur. In mehreren Prunkräumen des | |
Gorki – Kaiserstube, Eichensaal, Lichtsaal – installierte Videos geben | |
Einblicke in das heute wenig glanzvolle Zenica und führen die | |
Besucher:innen passenderweise in das Bosnische Nationaltheater, wo ein | |
Techniker unter anderem vom Weiterbetrieb während des Kriegs erzählt, und | |
eine Schauspielerin hechelnd gegen die knarzende Drehbühne anrennt. | |
Ausgangspunkt von Dakićs Arbeit war eine Recherche zu Walter Gropius' Idee | |
des „Totaltheaters“ mit drehbaren Zuschauerreihen und Flächen für Licht- | |
und Filmprojektionen. Das nie realisierte Projekt steht für das Scheitern | |
einer Utopie, wie sie im Bauhaus aufgehoben war. In den Sozialismus brach | |
der Neoliberalismus mit seinem vermeintlichen Ende der Geschichte | |
schließlich brutal ein. | |
Doch – das macht das Herbstsalon-Programm einmal mehr deutlich – Geschichte | |
ist nie zu Ende. So wie der Künstler in Stilinovićs Selbstporträt wird auch | |
sie immer wieder neu ideologisch und kommerziell vereinnahmt. Hin und | |
wieder bricht sie sich in der Gegenwart ganz unerwartet Bahn. Wie in Dakićs | |
Videosequenz „Vedo“, die sie im Gorki erstmals präsentiert: Da steht ein | |
Junge am Bahnhof [7][Sarajevo] und spielt auf seiner Ziehharmonika eine | |
alte Partisanenhymne, während dicke Schneeflocken vom Himmel rieseln. | |
3 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Vor-30-Jahren-begann-der-Bosnienkrieg/!5842991 | |
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[5] /Sexualisierte-Gewalt-im-Bosnienkrieg/!5920087 | |
[6] /Biennale-Venedig-2019/!5593734 | |
[7] /Roman-ueber-den-Bosnienkrieg/!5950304 | |
## AUTOREN | |
Sabine Weier | |
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