# taz.de -- Entführte Schülerinnen in Nigeria: Aufstehen für die Verschwunde… | |
> Das Schicksal der 230 von Boko Haram entführten Mädchen bewegt das Land. | |
> In der Hauptstadt Abuja fragen sich viele, warum sie verschwunden | |
> bleiben. | |
Bild: Demonstrationszug in der nigerianischen Hauptstadt. | |
ABUJA taz | Die Forderung ist monoton und simpel: „Alles, was wir wollen, | |
ist die Rückkehr unserer Mädchen, lebend und sofort.“ Seit einer Woche | |
klingt sie täglich durch die Straßen der nigerianischen Hauptstadt Abuja. | |
Die Sängerinnen und Sänger des Protestliedes tragen leuchtend rote T-Shirts | |
mit diesem Aufruf. Sie halten Plakate auf Haussa, der wichtigsten Sprache | |
im Norden Nigerias, und Englisch in die Luft. | |
„Die Regierung hat einfach nicht genug getan. Es hätte viel mehr sein | |
können“, sagt Jibrin Ibrahim, der für das Zentrum für Demokratie und | |
Entwicklung in Abuja arbeitet und die Proteste mitorganisiert. Er steht an | |
der Spitze des Demonstrationszugs, der sich langsam in Richtung | |
Armeehauptquartier bewegt. Wenn der bullige Mann im dunkelroten Flatterhemd | |
spricht, schüttelt er immer wieder ungläubig den Kopf – wie die meisten | |
Nigerianer, wenn sie den Ortsnamen Chibok hören. | |
In diesem kleinen Ort weit im Nordosten Nigerias hat sich vor mehr als drei | |
Wochen das Unglaubliche zugetragen. Knapp 300 Mädchen wurden aus einem | |
Internat entführt, in der Woche ihrer Abschlussprüfungen. In der Nacht zum | |
15. April kamen die Terroristen. Augenzeugen zufolge beschossen sie erst | |
das Dorf und zogen dann zur Schule weiter. Sie forderten die Mädchen im | |
Alter von 16 bis 18 Jahren auf, in ihre Lkws und auf die Mopeds zu | |
klettern; man werde sie vor Boko Haram in Sicherheit bringen. Erst am 5. | |
Mai hat sich Boko Haram per Videobotschaft zu der Entführung bekannt. Etwas | |
über 230 Kinder sind noch in der Gewalt der Islamisten, etwa 55 konnten | |
sich retten. | |
Es ist eine neue Dimension des Terrors in Nigeria. Seit dem Tod des | |
Gründers Mohammed Yusuf bei einer Militäraktion 2009 hat sich Boko Haram | |
zwar radikalisiert und verübt regelmäßig Anschläge. Entführungen blieben | |
bis jetzt aber aus. | |
## Wut auf die Regierung | |
Die Demonstranten in Abuja sind wütend auf ihre Regierung. „Wie kann es | |
sein, dass das Militär noch kein einziges dieser Mädchen befreit hat?“, | |
ruft einer. Viele nicken ihm anerkennend zu. | |
Auch Suran Darba hat sich ein rotes T-Shirt übergestreift. Auf seiner Stirn | |
glitzern kleine Schweißperlen. Obwohl die Regenzeit langsam einsetzt, ist | |
die Mittagshitze fast unerträglich. „Ich gehe ja nicht so weit zu sagen, | |
die Regierung hat das Problem völlig ignoriert. Aber es war schon | |
Unachtsamkeit da.“ | |
In Chibok hat Suran Darba selbst die Schulbank gedrückt – in derselben | |
Schule wie die jetzt entführten Mädchen. Chibok ist ein kleines Dorf in der | |
Provinz Borno, wo nach wie vor auch noch Christen leben, erklärt er und | |
tippt sich auf die eigene Brust: „Auch ich bin einer.“ Ebenso die Mehrheit | |
der entführten Schülerinnen, so verkündete es Anfang der Woche der | |
Dachverband CAN (Christliche Vereinigung Nigerias). Die Entführung sei ein | |
islamistischer Angriff auf die Christen Nigerias, hieß es. | |
## Suche nach Hinweisen | |
Ob das tatsächlich stimmt, weiß Suran Darba nicht. Er hat aber andere | |
Fragen, weil er die Gegend kennt: „Wie kann es nur sein, dass Boko Haram | |
mit sieben Lkws da hingekommen ist? Auf dem Weg dorthin ist an gleich zwei | |
Stellen das Militär stationiert. Da ist doch etwas faul. Wir müssen | |
unbedingt etwas für unsere Sicherheit tun.“ Wie mangelhaft diese ist, zeigt | |
sich auch dieser Tage wieder: Am Montag überfiel Boko Haram die Stadt | |
Gamboru Ngala an der kamerunischen Grenze und tötete bis zu 300 Menschen. | |
Die Soldaten dort sollen zuvor für die Suche nach den Chibok-Mädchen | |
abgezogen worden sein. | |
Nigerias Polizei hat eine Belohnung auf brauchbare Hinweise ausgesetzt. | |
Suran Darba schnaubt, wenn er so etwas hört. Weil er findet, dass die Suche | |
nach Boko Haram überhaupt nicht schwierig sein müsste. „Wer tatsächlich | |
dahintersteckt, das ist doch bekannt. Bei uns da oben weiß man, wer mit | |
Boko Haram zusammenarbeitet“, sagt er und wischt sich über die Stirn. | |
Der Demonstrant nennt Ali Modo Sheriff, den früheren Provinzgouverneur von | |
Borno, unter dessen Ägide 2009 Boko Harams Hauptquartier gestürmt wurde und | |
der danach die Macht verlor. Damals galt er als Boko Harams Hauptfeind. | |
Seit er anfing, seine Rivalen der Unterstützung der Islamisten zu | |
bezichtigen, wird ihm aber selbst dieser Vorwurf gemacht. | |
## Bekennervideo von Boko Haram | |
## | |
Die Frage nach den Förderern Boko Harams führt direkt in die Intrigen der | |
nigerianischen Politik. Auch daran liegt es wohl, dass Nigerias Präsident | |
Goodluck Jonathan, selbst Christ, so vorsichtig agiert. Erst am | |
Sonntagabend sagte er, mit Boko Haram ließe sich nicht verhandeln, weil die | |
Gruppe „kein Gesicht“ habe. | |
Aber Boko Harams Führer Abubakar Shekau sprach in seinem Bekennervideo am | |
Montag fast eine Stunde lang. Er wolle die Mädchen verkaufen und | |
verheiraten, sagte er. Unbestätigte Berichte darüber gibt es in Nigeria | |
schon seit zwei Wochen. Doch das Video hat nun die ganze Welt alarmiert. Ob | |
ein Verkauf der Mädchen tatsächlich möglich ist, darüber gehen die | |
Meinungen auseinander. Pure Propaganda sei das, heißt es einerseits. | |
Als „sehr wahrscheinlich“ schätzt hingegen Emmanuel Nnadozie Onwubiko von | |
der Vereinigung „Schriftsteller für Menschenrechte“ die Drohung ein. | |
Händler würden die Mädchen problemlos abnehmen und als Sexsklavinnen | |
überall im Land oder auch in die Nachbarländer verkaufen. Solche | |
Handelsrouten gäbe es schon lange. | |
Schräg gegenüber des Armee-Hauptquartiers halten die Demonstranten an und | |
warten auf das Gespräch mit dem Militär. Um die Zeit zu überbrücken, wird | |
Hosea Sambido ans Mikrofon gebeten, der Bürgermeister von Chibok. Es geht | |
eine Minute lang gut. „Wir können nichts tun. Die Eltern essen nichts mehr. | |
Wir haben selbst versucht, nach den Mädchen zu suchen“, ruft er und bricht | |
dann in Tränen aus. „Unser Dorf ist doch so klein. Was sollen wir nur | |
machen, wenn wir eine ganze Generation verlieren?“, weint er. Zwei Stunden | |
später sagt das Militär den Demonstranten zu, zwei weitere Bataillone in | |
den Norden zu schicken. | |
7 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Katrin Gänsler | |
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