# taz.de -- Kolumne Macht: Opfer ohne Gesicht | |
> 200 Mädchen wurden im Norden Nigerias entführt, kaum ein Reporter war je | |
> dort. Stattdessen erklärt sich Michelle Obama per Pappschild solidarisch. | |
Bild: Ein Polizist beobachtet einen Protesmarsch von Angehörigen der entführt… | |
Über sieben Jahre ist es her, dass die damals dreijährige Engländerin | |
Madeleine McCann aus einer portugiesischen Ferienanlage verschwand. Das | |
Interesse der Öffentlichkeit an dem Fall ist jedoch noch immer ungebrochen, | |
und auch die Polizei hat die Hoffnung nicht aufgegeben, ihn lösen zu | |
können. | |
Für die Eltern dürfte es einer der ganz wenigen tröstlichen Aspekte dieser | |
grauenvollen Situation sein: dass das Schicksal ihrer Tochter weltweit auch | |
Leute nicht gleichgültig lässt, die ihre Familie nicht kennen. Diese | |
Genugtuung hatten Angehörige der mehr als 200 Schulmädchen, die im Norden | |
Nigerias von der Sekte Boko Haram verschleppt worden sind, bis vor sehr | |
kurzer Zeit nicht. Hat sich das nun geändert? | |
Immerhin erklärt Michelle Obama mit Pappschild per Twitter ihre | |
Solidarität, ihr Mann fordert internationale Mobilisierung gegen die | |
Terrororganisation, Angelina Jolie zeigt sich entsetzt. Ein Staraufgebot | |
für die gute Sache. | |
Man sollte das Interesse am persönlichen Schicksal der Kinder, denen die | |
Versklavung droht, allerdings trotzdem nicht überschätzen. Noch immer haben | |
die Mädchen für die Öffentlichkeit keine Gesichter und keine Biografien, es | |
gibt keine Interviews mit verzweifelten Eltern, keine Gespräche mit | |
Freundinnen aus den Dörfern. | |
## Nur verbrannte Schulbänke | |
Zu allen Meldungen werden stets dieselben Bilder verbrannter Schulbänke | |
gezeigt. Was bedeutet: Auch zahlungskräftigen Medien scheint die Geschichte | |
nicht bedeutend genug zu sein, um ein Reporterteam loszuschicken. Elend in | |
Afrika? Ist doch keine Sensation. | |
Etwas anderes, politisch wichtiger, kommt hinzu: Die sich selbst als | |
radikalislamisch bezeichnende Organisation Boko Haram terrorisiert seit | |
Jahren die Bevölkerung im Norden Nigerias, vor allem in den ländlichen | |
Gebieten. Massaker und Überfälle sind fast an der Tagesordnung. Aber erst | |
seit es der Sekte gelungen ist, die Gewalt auch in die Hauptstadt Abuja zu | |
tragen - kürzlich forderten dort zwei Bombenanschläge zahlreiche Opfer -, | |
nimmt der Rest der Welt das nicht mehr achselzuckend hin. | |
Das liegt wohl weniger am plötzlich erwachten Mitgefühl mit der Bevölkerung | |
als vielmehr daran, dass die neue Stärke von Boko Haram auf internationale | |
Unterstützung hindeutet, und dass die erstaunliche Hilflosigkeit der | |
eigentlich gut trainierten nigerianischen Armee ebenfalls Fragen aufwirft. | |
Gibt es Interessengruppen sowohl im Inland als auch im Ausland, denen Chaos | |
im Norden Nigerias gelegen kommt - und warum? | |
Wenn alle Beteiligten sich ernsthaft um Antworten auf diese Fragen | |
bemühten, dann könnte das den verschleppten Mädchen vermutlich mehr helfen | |
als der Einsatz ausländischer Militärberater. Weil es ja nützlich ist, | |
einen Gefahrenherd zu kennen, will man ihn bekämpfen. | |
Nigeria ist einer der kompliziertesten Staaten südlich der Sahara. Scharfe | |
Gegensätze prägen das Land in kultureller, religiöser, sprachlicher und | |
wirtschaftlicher Hinsicht. Solche Verhältnisse sind immer ein guter | |
Nährboden für Gewalt. Das aber bedeutet nicht, dass die breite Bevölkerung | |
- sei sie nun christlich oder muslimisch – Sympathien für eine Terrorgruppe | |
hätte. | |
Das Etikett „radikalislamisch“, das Boko Haram sich aufgepappt hat, genügt | |
mit Sicherheit nicht, um Unterstützung in Nordnigeria zu finden. Boko Haram | |
hat mit dem Islam nicht mehr zu tun als die fundamentalistische Lords | |
Resistance Army im nördlichen Uganda mit dem Christentum. Die übrigens | |
ebenfalls Kinder entführt und versklavt. Im Kampf gegen derartige | |
Verbrecher wäre es schon mal ein schöner Anfang, wenn man wenigstens ihre | |
Eigendefinitionen nicht übernähme. Das könnte den Blick klären. | |
9 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Bettina Gaus | |
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