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# taz.de -- Eklat um Internationalen Literaturpreis: Spielregeln für Literatur…
> Wie sollen sich ästhetische Kategorien zu Identitätspolitik verhalten?
> Eine etwas ratlose Recherche zum Literaturpreis-Streit – und ein
> Vorschlag.
Bild: Muss jetzt nicht mindestens ein Symposium her? Das Haus der Kulturen der …
Erste Dinge zuerst: Es bleibt bei Aussage gegen Aussage. Wer sich die Zeit
nimmt, mit allen Seiten des aktuellen [1][Eklats um den Internationalen
Literaturpreis] zu sprechen, kann abwechslungsreiche und interessante
Stunden erleben. Aber verkünden, wie es wirklich war, das kann er danach
nicht.
[2][Juliane Liebert] und Ronya Othmann bleiben, auch in öffentlichen
Interviews, bei ihrer in der Zeit vom 16. Mai ausgeführten Darstellung,
nach der 2023 auf der Shortlist des Preises eine weiße Autorin durch eine
schwarze Autorin allein aus außerliterarischen, nämlich rein
identitätspolitischen Gründen per Mehrheitsbeschluss ausgewechselt worden
ist, und sie können das auch gut beglaubigen.
Es gibt E-Mails, die ihre Lesart stützen, und das etwas Seltsame der
Umstände – warum haben sie das nicht intern geklärt, warum wenden sie sich
so spät an die Öffentlichkeit – können sie auch ganz gut auflösen.
Andere Jurymitglieder dagegen erzählen einem am Telefon genauso plausibel,
dass während der Jurysitzung die ganze Zeit über ästhetische Kategorien im
Zentrum gestanden haben, und auch, dass der Satz, der für viel Empörung
gesorgt hat – „Du als weiße Frau hast hier eh nichts zu sagen“ –, übe…
nicht gefallen ist. Vielmehr sei in einer leidenschaftlichen Debatte
gefragt worden, ob Nichtbetroffene wirklich alle
Diskriminierungserfahrungen nachvollziehen können. Als
Ausschließungsversuch aus der Debatte sei das nicht gemeint gewesen.
Letzteres ist eine Sicht der Dinge, die das Haus der Kulturen der Welt
(HKW), das den Preis organisiert, auch in einer öffentlichen Stellungnahme
vertritt. In Telefongesprächen wird einem zudem versichert, dass auch die
während der Jurysitzung zuhörenden HKW-Mitarbeiter*innen (ohne Stimmrecht
selbstverständlich) den inkriminierten Satz nicht gehört haben.
## Im Eifer des Gefechts
Was nun? Sitzungen von Literaturjurys bedeuten Kommunikation unter
Anwesenden mit hohem Entscheidungsdruck. In ihnen kommt es nicht nur darauf
an, was man sagt, sondern auch, wie man es sagt, mit welcher Körperhaltung
und Stimmlage. Sind bei Juliane Liebert und Ronya Othmann im Eifer des
Gefechts angeführte Argumente allzu eindeutig angekommen? Wurde eventuell
nicht transparent genug kommuniziert, dass die erste Abstimmung, deren
Ergebnis verändert wurde, nur eine Diskussionsgrundlage darstellte, wie
andere Jurymitglieder ausführen?
Oder andersherum: Tilgen die anderen Jurymitglieder und HKW-Mitarbeiter in
ihrer Sicht der Dinge mögliche Ambivalenzen und Unklarheiten, um den
Internationalen Literaturpreis zu schützen, dessen diesjährige Shortlist
kommende Woche verkündet werden soll?
Das alles ist Spekulation. Nur eins ist klar: Die Wahrheit liegt auf keinen
Fall in der Mitte. Aber, ganz ehrlich, man ist ja als Literaturjournalist
auch keine Wahrheitskommission.
Ein kühler diskursanalytischer Blick auf die vom Eklat ausgehende
öffentliche Debatte hilft auch nicht weiter. Die Frage nach der Rolle von
Identitätspolitik bei den Literaturpreisen kontern die Verteidiger des
Preises nicht direkt, sondern auf dem ganz anderen Feld, dass Liebert und
Othmann mit ihrem Whistleblowing fundamentale Spielregeln des
Literaturjurywesens verletzt hätten.
Kurz, man konnte sich zunächst noch nicht einmal darauf einigen, an welchem
Punkt man überhaupt unterschiedlicher Meinung sein soll.
(Rechts-außen-Positionen, die die Debatte ausbeuten wollen und Rassismus
gegen Weiße anprangern, gibt es auch, aber das ist allzu durchsichtig; zur
Sicherheit sei hier ausdrücklich hingeschrieben, dass Liebert und Othmann
sich davon distanzieren.)
## Ausbootung oder normaler Vorgang?
Bei all der Aufregung irgendwo fast lustig: dass es vom Ergebnis der
Jurydiskussion her gar nichts zu skandalisieren gibt. Mit [3][Mohamed
Mbougar Sarr] als Preisträger sind alle Beteiligten einverstanden, und zwar
ausdrücklich aus ästhetischen Gründen. Auch mit der schließlich von sechs
auf acht Autor*innen erweiterten Shortlist können alle leben.
Kontroversen gibt es allerdings zur Frage, warum Liebert und Othmann nach
nur einem Jahr in der Jury nicht weiter berücksichtigt wurden, während vier
andere Mitglieder auch dieses Jahr in ihr sitzen. Ausbootung oder normaler
Vorgang? Hier gehen die Meinungen auseinander.
Festhalten kann man aber auch, wie sehr alle Beteiligten nachdrücklich
betonen, dass ästhetische Kategorien unbedingt zentral sein müssen. Sie
seien es im vergangenen Jahr auch gewesen, wird einem versichert, von
tiefgreifenden poetologischen Diskussionen ist die Rede.
Wozu einem einfallen kann, dass die Jury des Berliner Theatertreffens sich
nach ihren Entscheidungen öffentlich von aktivistischen Gruppen mit
Ansichten konfrontieren lässt, nach denen das Konzept von Hochkultur
zugunsten gesellschaftlicher Öffnungen sowieso geschleift werden müsse.
Doch von solchen Ansätzen ist rund um den Internationalen Literaturpreis
von keiner Seite zu hören – was immer im konkreten Fall geschehen sein mag.
## Wie bedeutet „Dringlichkeit“
Aber wie verhalten sich ästhetische und identitätspolitische Aspekte denn
nun konkret bei so einer Preisvergabe? Was bedeutet die Kategorie der
„Dringlichkeit“, die zudem berücksichtigt werden soll? Im Zuge der
aktuellen Debatte war schon der Vorschlag zu hören, dass das HKW über all
diese Fragen doch gut einmal ein Symposium veranstalten könnte. Vielleicht
ist das tatsächlich eine gute Idee. Und vielleicht wäre es in Sachen
Transparenz zudem gut, wenn die Jury sich nach ihrer Entscheidungsfindung
öffentlich zur Diskussion stellen und ihre Auswahl begründen würde, wie es
die Theatertreffenjury zum Beispiel tut.
Allerdings würde das einen anderen Umgang der Öffentlichkeit mit diesen
Preisen voraussetzen. Bislang stürzen sich die Medien mit Porträts auf den
Preisträger oder die Preisträgerin und hinterfragen den
Entscheidungsprozess nicht weiter. Warum eigentlich nicht?
Dafür, dass die internen Jurydebatten auch intern bleiben, gibt es, von der
Jury aus gesehen, gute Gründe, keine Frage. Doch die große Aufmerksamkeit,
die Juliane Liebert und Ronya Othmann rund um den Auswahlprozess erzeugt
haben, wäre ein Indiz dafür, dass die Jury als Black Box aus Sicht der
Öffentlichkeit und der Autor*innen, über die verhandelt wird, kaum mehr
zeitgemäß ist. Auch wenn man noch keine abschließende Idee hat, wie man
damit umgehen soll, sollte man das wahrnehmen.
24 May 2024
## LINKS
[1] /Debatte-um-Literaturjurys/!6010745
[2] /Gedichte-von-Juliane-Liebert/!5761645
[3] /Roman-von-Mohamed-Mbougar-Sarr/!5900406
## AUTOREN
Dirk Knipphals
## TAGS
Identitätspolitik
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Kulturpolitik
Ästhetik
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