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# taz.de -- Eine Begegnung in Ramallah: Wären wir nicht die, die wir sind
> Ein Ausflug zu einem palästinensischen Freund in Ramallah. Heißt: Essen,
> Trinken – und ein verstörendes Gespräch über den Holocaust.
Bild: Der Holocaust wird in palästinensischen Schulen kaum erwähnt: Straßens…
Jerusalem/Ramallah taz | Auf dem Weg zum Busbahnhof in Ostjerusalem, dem
palästinensischen Teil der Stadt, verändern sich die Gerüche. Zur
altbekannten Mischung von eingestandenem Urin, Schweiß und Müll gesellen
sich frisch gemahlener Kaffee und Grillfleisch. Wenige Minuten nachdem wir
die Stadt verlassen haben, sehen wir durch die Fensterscheiben im Bus ein
rotes Schild. „Diese Straße führt in die Zone A der Palästinensischen
Autonomiebehörde. Das Betreten ist israelischen Staatsbürgern untersagt,
gefährlich und gegen das Gesetz“, warnt es uns auf Hebräisch, Arabisch und
Englisch.
[1][Seit den Gewaltausbrüchen und Anschlägen der zweiten Intifada,] dem
Volksaufstand der Palästinenser:innen, der im Jahr 2000 begann und fünf
Jahre lang andauerte, dürfen Israelis palästinensische Städte aus
Sicherheitsgründen nicht mehr betreten. Mein ebenfalls israelischer
Begleiter und ich wollen trotzdem nach Ramallah und nehmen die Gefahr in
Kauf, dafür von der israelischen Armee einen Strafzettel über mehrere
hundert Euro zu kassieren – kontrolliert wird schließlich am Checkpoint auf
dem Rückweg, wir schaffen es aber, uns herauszureden. Für die kurze Strecke
von 20 Kilometern nach Ramallah brauchen wir beinahe zwei Stunden. Enge
Straßen, die Sperranlage aus Beton, Checkpoints und kilometerlange Staus
machen den Verkehr in Palästina zur Strapaze.
Bei Sonnenuntergang sitzen wir auf Khaleds (alle Namen geändert)
Dachterrasse im Zentrum von Ramallah. Die Sommerluft ist hier angenehmer
als zu Hause in Tel Aviv, gelegentlich spüre ich sogar einen Anflug von
Wind auf meinem Gesicht. Khaled serviert Pitabrot, Hummus, Tahini und
Salate. Ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen. Laut und herzlich, hat er
sich kaum verändert, reißt genauso wie früher ununterbrochen Witze. Wären
wir nicht die Menschen, die wir sind, könnten wir so abhängen. Beide wollen
wir einfach nur sein, haben genug von der Politik, von der Besatzung, die
uns beide, wenn auch auf unterschiedliche Weise, belastet. Beide wissen
wir, eigentlich ist alles schon längst und viel zu oft gesagt worden.
Deshalb trinken wir Bier und scherzen. Dann kommen wir trotzdem irgendwie
auf den Holocaust.
Khaled: „Darf ich einen Witz darüber machen?“
„Nein, die finde ich meistens nicht lustig.“
Khaled: „Was ist der Unterschied zwischen einem Juden …?“
„Der eigentliche Witz ist doch, dass man in Palästina nicht so richtig an
den Holocaust glaubt.“
Khaled: „Das stimmt, wir haben nicht viel für den Holocaust übrig. Er wurde
nicht nur an Juden, sondern an Behinderten, an Sinti und Roma, an
Homosexuellen, an vielen anderen begangen. Die Juden beanspruchen ihn nur
gerne für sich, und Israel missbraucht ihn, um für Unterstützung zu werben
und diese als Waffe auf uns Palästinenser zu richten. Wir zahlen seit 70
Jahren den Preis für den Holocaust.“
Khaleds Freund Rami: „Im Zweiten Weltkrieg starben 50 Millionen Menschen.
Warum kriegen Juden die Extrawurst?
Khaled: „Weil das eine systematische Vernichtung war, das macht schon einen
Unterschied. Das kann man nicht mit allen Kriegsopfern vergleichen.“
## Ich muss mich beherrschen
Immerhin. Geht doch, denke ich mir. Doch ich muss mich beherrschen. Dass
jemand in meinen Kreisen in Deutschland so über den Genozid an sechs
Millionen jüdischen Menschen spricht, wäre undenkbar. In Deutschland sagt
man Sachen wie: Verantwortung für Geschichte übernehmen, Erinnerungskultur,
Antisemitismus bekämpfen, Staatsräson, „Nie wieder!“. Mit diesem Wortscha…
bin ich als Enkelin von Holocaust-Überlebenden aufgewachsen, zum Glück.
Hier in Ramallah ist alles anders. [2][Es verweben sich Familiengeschichte,
Identität, Konflikt und Schmerz.] Khaled Holocaust-Verharmlosung
vorzuwerfen und damit unsere Freundschaft zu beenden, ist mir zu simpel.
Was in Deutschland ein inakzeptabler Tabubruch ist, hat hier noch eine
andere Dimension.
Khaled wuchs in Tulkarem auf, einer Stadt im nördlichen Teil des
Westjordanlandes, in einer streng religiösen arabischen Familie. Zu seinen
frühesten Kindheitserinnerungen gehört das Gefühl der Angst, als
israelische Soldaten seine Mutter bei einer Dokumentenkontrolle auf
Hebräisch anschreien. Israelis, das sind für ihn Menschen in grünen
Armeeuniformen, die ihn erniedrigen, schlagen, einsperren, ihn zum
Informanten machen wollen. Dass ich überhaupt auf seiner Dachterrasse
sitzen darf, ist nicht selbstverständlich.
Aus palästinensischer Sicht vernichteten die Deutschen Millionen von
Jüdinnen und Juden; die Nationen der Welt – insbesondere die europäischen
Nationen – fühlen sich deswegen bis heute schuldig und gewährten dem
jüdischen Volk einen Teil eines Landes, das ihnen nicht gehörte.
Der Holocaust wird in palästinensischen Schulen kaum erwähnt.
Fehlinformationen und Verleumdung sind weit verbreitet. Das gängige
Narrativ erklärt den Völkermord an den Juden zur eigentlichen Ursache der
eigenen Katastrophe, der Nakba, von 1948. Während der Nakba verloren über
700.000 palästinensische Menschen ihr Zuhause.
## Sicherheit für jüdische Menschen
Sowohl in der israelischen als auch in der palästinensischen Gesellschaft
herrscht häufig die Auffassung, dass Israel als Antwort auf den Holocaust
entstanden ist. Historische Forschungen haben gezeigt, dass dem nicht so
ist. Der israelische Holocaust-Historiker Yehuda Bauer spricht von einem
indirekten Zusammenhang: Die Bestrebung des Zionismus war es schon Ende des
19. Jahrhunderts, einen jüdischen Staat in Palästina zu errichten. Die
Überlebenden bildeten zwar ein zentrales Element bei der Erlangung der
Unabhängigkeit, doch der Holocaust gefährdete den Kampf um den eigenen
Staat auch, da er das Hauptreservoir einer jüdischen Massenemigration aus
Osteuropa nach Palästina vernichtete. Der Staat Israel wurde also nicht
wegen, sondern trotz des Holocaust gegründet.
Ein Drittel der Kämpfer:innen im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948
hatten die Gräuel in Europa überlebt und waren erst vor Kurzem in das
Mandatsgebiet Palästina eingewandert – oft illegal und unter Lebensgefahr.
Viele von ihnen kämpften um eine nationale Heimstätte, in der sich jüdische
Menschen sicher fühlen können. Aber meine Diskussion mit Khaled ist kein
Gespräch zwischen Historiker:innen. Viel gewichtiger als Tatsachen sind die
Emotionen, die mit historischen Ereignissen in Verbindung gebracht werden.
„Die Nakba geht immer weiter“, sagen meine palästinensischen Freund:innen
oft und meinen damit nicht nur den historischen Schmerz der Vertreibung und
die Sehnsucht nach Gerechtigkeit, sondern [3][die anhaltende Unterdrückung
ihres Volkes durch Israel]. Die Machtasymmetrie zwischen den zwei Seiten,
jüdischen Israelis und Palästinenser:innen, ist aus meinem Gespräch mit
Khaled nicht wegzudenken.
Das israelische und das palästinensische Narrativ sind unvereinbar.
Gemeinsam ist ihnen die Leugnung des Schmerzes auf der jeweils anderen
Seite.
## Warum Empathie?
Aus palästinensischer Sicht ist es schwierig, Empathie für das Leiden der
Gegenseite zu empfinden, das Jahrzehnte in der Vergangenheit liegt, während
sie selbst in der Gegenwart tägliches Leid erfahren. Khaled hält
Holocaust-Pädagogik in palästinensischen Schulen für überflüssig, solange
jüdische Israelis nicht das Leid seines Volkes anerkennen wollen. „Warum
sollte ich Empathie für die Besatzer empfinden, die mich seit Jahrzehnten
unterdrücken, für die wir gar keine Menschen sind?“, fragt er mich auf der
Dachterrasse.
Weil auch Palästinenser:innen über den Holocaust Bescheid wissen
müssen, um mit Jüdinnen und Juden zu kommunizieren, schreie ich ihn an.
Weil niemand das Monopol über menschliches Leiden hat, weder Israelis noch
Palästinenser:innen. Weil wir Menschlichkeit brauchen, um die Geschichte
des jeweils anderen zu verstehen. Geradezu so, als habe das Opfer immer
recht, hält man stattdessen den anderen automatisch für den Täter. Die
Gräuel des Holocaust dabei nicht zu verharmlosen, bedeutet nicht, das
eigene Leiden oder die Forderung nach Gerechtigkeit zu verraten. Habe ich
diese Perspektive nur, weil ich privilegiert bin? Vielleicht, aber das ist
mir in diesem Moment egal.
Trotz fundamentaler Unterschiede zwischen der Ermordung der europäischen
Juden und der palästinensischen Nakba sind beide Tragödien und das dadurch
ausgelöste Trauma eng miteinander verflochten. Sie prägten den weiteren
Geschichtsverlauf, das nationale Bewusstsein und die Identität von Israelis
und Palästinenser:innen auf jeweils unterschiedliche Weise.
Beide Narrative in sich zu halten, ohne die andere Seite zu delegitimieren,
ist emotional schwierig. Aber ich weiß auch, Empathie zu empfinden ist
einfacher, wenn man sich auf der bequemen Seite der Landkarte in Sicherheit
wähnt.
„Kannst du ihm seine Gefühle tatsächlich verübeln, nach allem, was ihm
angetan wurde?“, fragt mein israelischer Begleiter mich in der Früh
nachdenklich, als wir durch den farbenprächtigen Markt von Ramallah
schlendern und Kaffee trinken. „Ich kann es nämlich nicht.“
20 Oct 2021
## LINKS
[1] /Palaestinensischer-Analyst-ueber-Intifada/!5236781
[2] /Debatte-um-WDR-Moderatorin/!5802578
[3] /Ueberfaelle-im-Westjordanland/!5801522
## AUTOREN
Marina Klimchuk
## TAGS
Holocaust
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Palästina
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Lesestück Recherche und Reportage
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Existenzrecht Israels
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