| # taz.de -- Ein Syrischer Arzt kehrt zurück: Heim nach Idlib | |
| > Vor elf Jahren verließ Mustafa Fahham seine Heimat. In Deutschland baut | |
| > er sich ein Leben auf. Dann fällt das Assad-Regime und Fahham kehrt | |
| > zurück. | |
| Bild: Aleppo liegt noch in Trümmern. Hier hat Mustafa Fahham vor Jahren sein M… | |
| Der grauschimmernde Minivan, der die Schlaglöcher abfedert, überholt die | |
| weißen, zerkratzten 9-Sitzer voller Menschen, die Männer vorne, die Frauen | |
| hinten, Kinder überall, die entlang der Landstraße holpern. Der | |
| grauschimmernde Minivan überholt das Moped, auf dem der Fahrer, ein | |
| korpulenter Mann in schwarzem Gewand und roter Kefiyah, eine Frau mit | |
| schwarzem Gesichtsschleier und Jacke mit Leopardenmuster sowie ein junges | |
| Mädchen sitzen. | |
| Im grauschimmernden Minivan sitzt Mustafa Fahham und schaut nachdenklich | |
| aus dem Fenster. Auf die karge Landschaft, die trockene, rote Erde, die | |
| sich in goldene und grüne Streifen am Horizont auflöst, auf die Olivenbäume | |
| und Kiefern am Rand, auf die weißen Sandsteinhäuser in der Ferne. Die Luft | |
| ist noch frisch, doch die ersten Sonnenstrahlen des Morgens erwärmen sie | |
| bereits. | |
| Fahham sitzt in grünem T-Shirt und Jeans hinten im Wagen, neben ihm hängt | |
| ein blauer Anzug mit blütenweißem Hemd von einem Bügel. Fahham hat in einem | |
| schönen Hotel im modernen Teil Aleppos übernachtet, doch heute Morgen einen | |
| Bogen um den Frühstückstisch gemacht. Wieso, das wird er später erklären. | |
| Heute ist ein wichtiger Tag im Leben des 35-jährigen Mediziners. Beruflich, | |
| aber vor allem persönlich. | |
| Mustafa Fahham ist Nierenarzt. Diplomiert in Aleppo, weitergebildet in | |
| Hamburg. Einer der 169.280, die sich [1][seit 2011 in Deutschland] haben | |
| einbürgern lassen. Weil sie in der Bundesrepublik ihre Zukunft sahen. In | |
| Syrien, da wo sie und Fahham herkommen, gab es für sie keine Zukunft. Nur | |
| Krieg, Repression, Folter. Und Tod, Tränen, Trauer. Verlust. | |
| ## Aufstehen! Assad ist gestürzt! | |
| Am 8. Dezember 2024 [2][fällt nach 24 Jahren Terror das Regime] des | |
| syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. Eine Rebellenkoalition, angeführt | |
| von der islamistischen Miliz Hayat Tahrir asch-Scham (HTS), übernimmt die | |
| Macht nahezu über Nacht. Und fast ohne Blutvergießen. | |
| Fahham sitzt in jener Nacht vor dem Fernseher in seiner Wohnung, in einem | |
| Mehrfamilienhaus in Bremerhaven-Geestendorf, das Handy in der Hand, und | |
| kann nicht aufhören, die Nachrichten zu verfolgen, die pausenlos über den | |
| Bildschirmen flimmern. Seine Augen sind durch tiefe Ringe gezeichnet, | |
| geschlafen hat er kaum in den letzten drei Nächten. Frustriert ist er, weil | |
| er den Einmarsch der Rebellen mit eigenen Augen sehen wollte. Doch nach | |
| Syrien kann er jetzt nicht, im deutschen Krankenhaus wartet man auf ihn. | |
| Aber dass es jetzt wirklich klappt, Assad zu stürzen? Dreizehn Jahre lang | |
| haben wir es versucht, sagt er. Ohne Erfolg. | |
| Bis eben war er mit seiner Frau und den zwei Kindern bei Freunden. Um 23 | |
| Uhr sind sie nach Hause gegangen, bis 2 Uhr ist Fahham wach. Dann ist er so | |
| müde, dass er kurz eindöst. Doch plötzlich, es ist 4 Uhr, klingelt das | |
| Handy. Aufstehen! Assad ist gestürzt!, schreit ihn die Stimme am anderen | |
| Ende der Leitung an. Ein unglaublich emotionaler Moment, sagt er und zeigt | |
| ein Bild von sich vor dem Fernseher, Syria-TV-Nachrichten im Hintergrund | |
| und ein schläfriger Fahham vorne. | |
| In jenen zwei Stunden, als Fahham schläft, marschieren die Rebellen durch | |
| die Straßen von Damaskus. Anführer Ahmed al-Scharaa spricht noch am selben | |
| Tag aus der antiken Umayyad-Moschee an die Nation, er spricht von „Sieg“ | |
| und „neuer Geschichte“. Assad hat in den frühen Morgenstunden das Land an | |
| Bord eines Flugzeugs in Richtung Russland verlassen. Seine Soldaten haben | |
| ihre Stellungen aufgegeben und sind zu ihren Liebsten nach Hause geflohen. | |
| Es ist ein neuer Tag, es ist ein neues Syrien. | |
| ## Er beschließt seine Rückkehr | |
| Fast vier Monate später, am 15. März, wieder in Fahhams Wohnung in | |
| Bremerhaven: Es ist genau 15 Jahre her, dass ein erster Protest den Beginn | |
| der Syrischen Revolution markiert. Es ist Ramadan und Fahham fastet, öffnet | |
| aber eine Packung Hanuta für den zweijährigen Mohammad, den jüngsten Sohn, | |
| ein Kleinkind in buntem Pyjama und Socken, mit blauen Augen und | |
| dunkelblonden Haaren, der ihn Baba nennt. | |
| Im Wohnzimmer liegen Teppiche mit Blumenmuster unter den weinroten Sofas, | |
| das Bild von einem Holzsteg im Sonnenuntergang hängt an der Wand – typisch | |
| norddeutsch. Auf der anderen Seite stehen weiße arabische Laternen und ein | |
| Ramadan-Kalender. Ein blumiger Duft liegt in der Luft. Die zwei Kinder | |
| kreischen und spielen Fangen zwischen den Sofas, das jüngere nibbelt ab und | |
| zu an seiner Schokowaffel. | |
| Noch lässt nichts erahnen, dass sich die Familie gerade auf eine der | |
| wichtigsten Reisen ihres Lebens vorbereitet. An jener Nacht im Dezember hat | |
| Fahham beschlossen, nach über elf Jahren Abwesenheit in die vom Krieg | |
| zerrüttete Heimat zurückzukehren. Für ein paar Wochen zumindest. | |
| Fahham zieht den Kindern Wollmützen und Schals an, sie rennen zur Tür. | |
| Raus, zum See, wenige Hundert Meter von der Wohnung entfernt, in die kühle | |
| Morgenluft. In Bremerhaven gibt es nicht so viel Grün, nicht so viel Natur | |
| wie auf den Feldern und in den Obstgärten um seine Heimatstadt Idlib. „Wir | |
| sind bekannt für Olivenbäume, Feigenbäume“, sagt er. | |
| ## Freude und Angst | |
| In Deutschland hat sich Fahham ein schönes Leben aufgebaut. Er meistert die | |
| Sprache, dafür hat er sich in den ersten Jahren Mühe gegeben, hat Freunde, | |
| wenn auch die engeren aus Syrien stammen, kennt die besten syrischen | |
| Restaurants in Bremen und Bremerhaven, wenn das Heimweh mal wieder | |
| anklopft. Er hat sich eingelebt. Sein ältestes Kind spricht akzentfreies | |
| Deutsch. Doch der Gedanke an die Heimat, der ist nie ganz erloschen. | |
| Vierhundert Meter und drei Straßen weiter erstreckt sich ein kleiner See, | |
| umgeben von bunten, noch nicht ganz aufgegangenen Frühlingskrokussen und | |
| leeren Sitzbänken. Eine Ente lässt sich auf der Wasseroberfläche treiben, | |
| eine Trauerweide streckt die Zweige gen Wasser. Fahham setzt sich auf eine | |
| Bank am Deich, allein, und denkt nach. Verschiedene Emotionen kämpfen in | |
| ihm. Freude, nach so vielen Jahren, nach so langer Zeit nach Syrien | |
| zurückzukehren, seine Heimatstadt wiederzusehen. Aber auch Angst. | |
| Fünfhundert Syrer*innen sind inzwischen aus Deutschland langfristig | |
| zurückgekehrt, viele mehr kurzfristig, auch in Fahhams Umfeld. Und sie | |
| sagen: ‚Du wirst ein anderes Syrien erleben. Du wirst deine Heimatstadt | |
| nicht wiedererkennen. Viele Orte, die du kennst, sind nicht mehr da.‘ | |
| Jetzt sitzt Fahham an diesem Aprilmorgen im grauschimmernden Minivan | |
| Richtung Heimat, und denkt nach. Über seine Rede, über den Vortrag, den er | |
| am Uniklinikum in Idlib in vier Stunden halten wird. Und sicherlich über | |
| vieles anderes, seine Familie, seine Reise. Er schickt ein paar | |
| Sprachnachrichten, während draußen Jugendliche Schafe weiden. Fahham | |
| spricht ruhig und bedacht, stets um Freundlichkeit und Korrektheit bemüht. | |
| ## Beatmungsgeräte aus Deutschland | |
| Heute ist der große Tag. Der Tag, an dem er nach elf Jahren als Sieger in | |
| seine Heimatstadt zurückkehrt. An dem sich elf Jahre Abwesenheit in Luft | |
| auflösen sollen. Der Verbindungspunkt, der den Einschnitt dieser Jahre | |
| verschließt. Als frisch diplomierter Medizinstudent ist er gegangen, als | |
| gestandener Oberarzt kommt er zurück. | |
| Als jemand, der Konferenzen an Universitäten hält, der sich mit Ministern | |
| trifft. Fahham, der eigentlich Medienschaffender sein wollte, doch keine | |
| Zukunft für den Journalismus unter Assad sah, hat einen Verein | |
| mitgegründet. Dieser soll das Gesundheitswesen in Syrien unterstützen. Von | |
| Deutschland aus. Beatmungs- und Dialysegeräte, Workshops, Spenden, | |
| Weiterbildung. Syrian German Medical Association sein Name, gut 300 | |
| Mitglieder. | |
| Fahham kümmert sich um die PR, die Leidenschaft für die Medien ist | |
| geblieben. Auch deshalb ist er nach Aleppo und Idlib gefahren. Sich einen | |
| Blick in den dortigen Krankenhäusern verschaffen, Ideen entwickeln, Treffen | |
| arrangieren, Öffentlichkeitsarbeit leisten. Vorträge halten. Der 35-Jährige | |
| mit den silbernen, seitlich kurz geschnitten Haaren und getrimmtem Bart | |
| sieht leicht nervös aus. Dafür hat er Gründe. | |
| Vierzehn Jahre zuvor kam der Frühling in Fahhams Land an. Doch nicht Blumen | |
| sprossen aus der Erde, sondern Gräber. Nicht Vogelgezwitscher füllte den | |
| Himmel, sondern Explosionen und Schreie. Die Revolution, von der Fahham und | |
| seine Kommiliton*innen an der Universität von Aleppo geträumt hatten, | |
| wandelte sich in ein Massaker. | |
| ## Als der Widerstand gewaltsam gebrochen wurde | |
| Als sich die erste Demo in Idlib zusammenfindet, im April 2011, schauen | |
| sich eine Gruppe junger Männer und Frauen in die Augen, gut 500 sind es, | |
| die sich neben der Moschee versammelt haben. Ängstlich, kaum einer traut | |
| sich, das laut zu rufen, was alle denken. Dass Assad wegmuss, dass die | |
| Menschen genug haben vom Regime, von Terror und Korruption. Dann bricht | |
| jemand das Schweigen, der Protest nimmt seinen Lauf. Die erste | |
| Demonstration verläuft friedlich, doch nach und nach verschwinden viele | |
| Teilnehmer*innen hinter den Gittern des Regimes. | |
| Drei Proteste später, einen Monat danach, verschwinden die Menschen nicht | |
| mehr leise, sie werden direkt begeschossen. Ein junger Mann stirbt, Fahham | |
| ist dabei. Auf einem vergilbten Bild, das er mit nach Deutschland genommen | |
| hat, sieht man zwei Männer mit einer syrischen Flagge, sie stehen auf dem | |
| Vordach des Eingangstors der Universität von Aleppo, der Name ist dort in | |
| arabischer Schrift gemalt. Unter ihnen jubelt eine Menschenmenge. „Hier | |
| haben wir die Uni erobert“, sagt Fahham. Das Datum: 17. Mai 2012. Auf dem | |
| nächsten Bild sieht man acht junge Männer in weißen Kitteln, sie essen | |
| Kuchen und trinken Orangensaft. Auf dem dritten Bild trägt eine | |
| Menschenmenge die Leiche eines gefolterten Medizinstudenten, der | |
| Demonstrierende behandelte. | |
| Vor über elf Jahren ist Fahham gegangen. Denn parallel zu den Prüfungen hat | |
| er Demonstrationen gegen Assad vorbereitet. Sicher ist es für ihn nicht | |
| mehr. Und eine Familie zu gründen, mitten im Bürgerkrieg – kaum zu denken. | |
| „Meinungsfreiheit war ein Fremdwort, Korruption war sehr verbreitet. Assad | |
| hat versucht, Alawiten gegen Sunniten auszuspielen. Viele Bekannte sind | |
| verhaftet worden. Was man jetzt in Sednaya gefunden hat, das kennen wir | |
| schon lange.“ | |
| Also geht er. 2013, als in Aleppo heftige Gefechte zwischen Rebellen und | |
| Pro-Assad-Truppen die Altstadt in Schutt und Asche legen, schließt er sein | |
| Medizinstudium ab. 2014 fährt er nach Istanbul, im Oktober landet er in | |
| Hamburg. [3][Einer der fast 6.000 syrischen Ärzt*innen], die das deutsche | |
| Gesundheitswesen mit am Leben halten. Einer, von dem der öffentliche | |
| Diskurs abwechselnd sagt, er werde unsere Renten zahlen, und er solle | |
| zurück in sein Heimatland. Mal ist er Rettung des deutschen | |
| Gesundheitssystems, mal Bedrohung der deutschen Leitkultur. | |
| ## Geschmacksreise in die Vergangenheit | |
| Jetzt, elf Jahre später, ist Fahham wieder da. In den Straßen Idlibs, die | |
| vor Staub und Lärm strotzen, auf denen alte Mopeds an den Läden | |
| vorbeituckern. Läden, in deren geschwärzte Wände sich Abgase und Zeit | |
| eingefressen haben. Verkäufer stellen Obst und Waren auf dem Gehweg aus, | |
| daran vorbei laufen mit schnellen Schritten Frauen in schwarzen Gewändern, | |
| die Gesichtsschleier über Mund und Nase, sowie Soldaten in Tarnfleck mit | |
| Kalaschnikows auf dem Rücken. Und Kinder, viele Kinder. Ein harter | |
| Gegensatz zur ordentlichen Ruhe Bremerhavens. | |
| Fahham ist nicht allein, vier syrische Ärzte aus Deutschland fahren mit. | |
| Sie tauschen sich aus über Fußball, über Orte, an denen man US-Dollar | |
| wechseln kann. Der grauschimmernde Minivan überquert einen Verkehrskreisel | |
| und biegt in eine Nebenstraße ab. Fahhams Gesicht heitert sich langsam auf, | |
| der Minivan nähert sich einer alten, teils zerbombten Moschee mit einem | |
| unauffälligen Minarett. „Hier habe ich oft gebetet, die Wohnung von meinen | |
| Großeltern lag da, hier habe ich meine Kindheit verbracht!“, ruft Fahham | |
| begeistert, als er aus dem Minivan steigt. „Wenn ich mir das so ansehe, | |
| kommen viele Gefühle hoch, ja“, sagt er. Seine Augen glänzen. | |
| Alt und optisch nicht ansprechend ist das Viertel, das weiß Fahham. Für ihn | |
| aber: wunderschön. Jetzt wird klar, wieso er heute Morgen nicht | |
| gefrühstückt hat. Die fünf Ärzte, die mit ihren T-Shirts und Rucksäcken | |
| eher wie Touristen als Einheimische aussehen, streben mit sicherem Schritt | |
| zurück in Richtung Kreisel. An einer Straßenecke liegt ein unauffälliger | |
| Laden: Patisserie Habush. | |
| Die Aufschrift ist knallrot, und mit den glänzenden Neonlampen wirkt er ein | |
| bisschen wie eine US-Imbissbude, vor der Kasse stehen gut ein Dutzend | |
| Menschen Schlange. Ein Geruch von Butter und Zucker strömt aus dem Ofen. 15 | |
| Minuten Wartezeit, während die Köche den Teig kneten, ihn mit Creme füllen | |
| und Zuckersirup tränken, mit Walnüssen und Pistazien bestreuen, et voilà, | |
| fertig ist Shaibiyat, das süße Gebäck, für das Idlib bekannt ist. Und auf | |
| das hier Jung und Alt, Soldaten inklusive, warten. Bitteren Kardamomkaffee | |
| servieren die Kellner in kleinen Plastikbechern dazu. | |
| ## Haus der Kindheit | |
| Lange musste Fahham warten, um diesen süßen Geschmack wieder zu kosten. So | |
| lange, dass die 15 Minuten wie im Wimpernschlag verfliegen. „Ich bin jetzt | |
| zwölf Jahre zurückgereist“, sagt Fahham. Die Gruppe stürzt sich auf die | |
| Tellerchen, konzentriert und mucksmäuschenstill. | |
| Wenige Minuten später sind sie wieder draußen, nach und nach trennen sich | |
| ihre Wege, jeder begibt sich in eine andere Richtung, eine andere Klinik. | |
| Bedürfnisse erfragen, Operationen durchführen, sich schwierige Fälle | |
| ansehen. Alle gehören demselben Verein an, alle verfolgen dasselbe Ziel: | |
| etwas zurückgeben von dem Glück, das sie sich erkämpft haben. Fahham weiß, | |
| dass er privilegiert ist, dass er sich in Deutschland ein gutes Leben | |
| aufbauen konnte. Dass ein Arzt dort gut hundert Mal so viel verdient wie | |
| einer hierzulande. Dass seine Kinder nicht im dröhnenden Lärm der | |
| Explosionen und Schüsse aufwachsen mussten. | |
| Aber davor muss der 35-jährige Arzt noch was erledigen: noch einmal das | |
| Haus seiner Kindheit sehen. Jetzt links, in die Straße rein lotst er den | |
| Fahrer. In einem ruhigen Wohnviertel steht ein vierstöckiges Haus aus | |
| weißem Sandstein mit Holztür. Hohe Kinderstimmen aus der Schule nebenan | |
| schießen in die Luft wie Feuerwerk. Ein junger Mann lehnt sich aus dem | |
| Balkon in der vierten Etage und winkt. | |
| Fahham lächelt und winkt zurück, überfliegt nahezu die acht Treppen bis zu | |
| Wohnungstür, schon ist er da, umarmt den jungen Mann, sie nehmen sich in | |
| die Arme und lachen. Er bittet Fahham rein, der streift sich die Schuhe ab, | |
| tritt durch die Tür, schaut sich um, staunend und strahlend zugleich. Jetzt | |
| ist er wieder zu Hause. „Wie soll ich dieses Gefühl beschreiben, das ich | |
| gerade empfinde? Ich kann es nicht. Es ist wie ein Traum, der in Erfüllung | |
| gegangen ist. Ich hätte nie davon geträumt, dass ich meine alte Wohnung | |
| wiedersehe.“ | |
| ## Sicher im eigenen Land | |
| Als Fahham vor fünf Tagen die syrisch-libanesische Grenze überquert hat, | |
| war es so dunkel, dass er kaum was sehen konnte. Gemerkt hat er nur den | |
| Gesichtsausdruck des Grenzbeamten: freundlich. Ein bis dahin unbekanntes | |
| Gefühl überkommt ihn: das Gefühl, im eigenen Land sicher zu sein. Die Angst | |
| ist weg. Zum ersten Mal hat er eine Heimat, sagt er. | |
| In Aleppo, dessen Altstadt wie ein schreckliches, doch wunderschönes | |
| Denkmal teils noch in Trümmern liegt, trifft Fahham auf alte Kommilitonen | |
| und Professoren, schlendert durch Hörsäle und Zimmer des Uniklinikums, in | |
| denen er einst arbeitete, hält einen Vortrag, der mit dem Zeichentrickfilm | |
| über einen 20-jährigen Mann beginnt, der Medizin studiert und zusieht, wie | |
| ein Kommilitone Demonstranten hilft und von Assads Kräften getötet wird. | |
| Die Zeichentrickfigur ist der jüngere Fahham. Dann spricht er über die | |
| Arbeit seines Vereins, über das Gesundheitswesen in Syrien und Deutschland. | |
| Er lächelt, beantwortet Fragen, schüttelt Hände. | |
| Er sitzt am Tisch mit seinen Kollegen in einem raffinierten Restaurant | |
| entlang der einstigen Kampflinie, isst Baba ganoush, Auberginenpüree, und | |
| Fladenbrot mit Fleisch, spaziert am Abend durch die Altstadt, als das | |
| orangene Licht des Sonnenuntergangs die Trümmer rosarot tüncht, redet frei | |
| mit den Kollegen über Politik, über Wiederaufbau. „Schau mal auf | |
| Deutschland nach dem Krieg“, sagt einer. Dann will Fahham früh ins Bett, | |
| morgen wird ein langer Tag. Morgen geht es nach Idlib. | |
| Jetzt ist er da, in Idlib, in seiner alten Wohnung, fünf Zimmer, hohe | |
| Decken, rote Sofas, moderne Küche und Fahham lächelnd mittendrin. Er | |
| unterhält sich mit dem entfernten Verwandten, der jetzt in seiner Wohnung | |
| lebt, sie sprechen über Bekannte, die ausgewandert sind, weil es kaum noch | |
| Jobs gibt, essen Gebäck mit Datteln. | |
| ## Fahhams großer Auftritt | |
| Es ist fast 12 Uhr und Fahham muss sich schnell umziehen, mit raschen | |
| Bewegungen streift er sich Krawatte und Anzug über. Die Anspannung ist | |
| hinter dem Lächeln sichtbar. Das Uniklinikum in Idlib ist noch teils im | |
| Aufbau, der Eingang staubig, die Wände durchfressen, die Türrahmen rostig. | |
| Die Patient*innen, zwischen denen sich Fahham durchschlängelt, sammeln sich | |
| in den Fluren, sitzen auf Tragen und Stühlen. | |
| Endlich erreicht er den Hörsaal. Hier sitzen Frauen und Männer getrennt, | |
| die Frauen auf der linken Seite, die Männer auf der rechten. Die Treppe | |
| dazwischen bildet eine unsichtbare Trennwand. Noch spricht sein Vorredner. | |
| Fahham unterhält sich mit einigen Männern, dann geht er langsam auf das | |
| Podest zu. Der Redner verabschiedet sich, einige Student*innen stehen | |
| auf, einige verlassen das Auditorium. Pause. | |
| Fahham checkt den Laptop, steckt den USB-Stick ein, testet sein Headset. Es | |
| funktioniert nicht. Alle setzen sich wieder auf ihre Plätze, gleicht geht | |
| es los. Fahhams Stimme hallt plötzlich in dem Raum. Das Zeichentrickbild | |
| des jungen Mannes, der in weißem Kittel zur Uni geht, läuft die über die | |
| Leinwand. Fahham lächelt. | |
| Acht Tage später ist Fahham wieder in Bremerhaven. Er sitzt auf dem | |
| komfortablen Sofa seines Wohnzimmers, der jüngste Sohn kreischt im | |
| Hintergrund. Im Videoanruf erzählt der Nierenarzt, dass er mit der | |
| Veranstaltung in Idlib zufrieden war. Stolz, auch wenn der Vortrag derselbe | |
| war, den er in den anderen Städten gehalten hat. Für ihn aber hatte dieser | |
| einen besonderen Geschmack. Schade, dass er dann sofort wegmusste, dass die | |
| Zeit in Idlib so kurz war. | |
| ## Großes Glück – für kurze Zeit | |
| Er erzählt aber auch, dass Kinder in Nordsyrien sterben, weil es dort keine | |
| Geräte für Peritonealdialyse gibt, die Abfall aus dem Bauch herausfiltern, | |
| wenn die Nieren nicht mehr arbeiten. Dass es schwer war, Ärzte nach Latakia | |
| zu schicken, weil viele Angst hatten nach der [4][Gewalt an den | |
| Alawit*innen im letzten Monat]. Dass die Reise viel zu kurz war, dass | |
| zwölf Tage nicht fast zwölf Jahre Abwesenheit wieder gutmachen können. | |
| Schon vermisst er die Lebendigkeit des syrischen Lebens, das Chaos. Es ist | |
| ein Heimweh, das lange in ihm schlummerte, das tief in ihm begraben war und | |
| nun wieder erweckt ist. Die Reise: wie ein Traum, aus dem er noch nicht | |
| ganz aufgewacht ist. Eine neugefundene Hoffnung, so wie die Hoffnung für | |
| die Zukunft, die auf den Straßen Syriens schwebte. Eine Wiedergeburt, sagt | |
| Fahham. Pure Glückseligkeit. „Viele Gefühle, die in mir gestorben waren, | |
| sind wieder ins Leben gekommen.“ | |
| Die nächste Reise hat Fahham noch nicht gebucht, aber sie kommt bestimmt. | |
| Aber für etwas Dauerhaftes müsste die Sicherheitslage in Syrien schon | |
| stabiler werden. Er hat Kinder, Risiken will er nicht eingehen. Und eine | |
| berufliche Perspektive dort müsste her. Aber irgendwann kehrt er zurück, | |
| vielleicht für länger. | |
| 31 May 2025 | |
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| [2] /Sturz-des-Assad-Regimes/!6054210 | |
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