# taz.de -- Ein Jahr Pandemie: Das Mitgefühl-Paradox | |
> Seit einem Jahr sterben täglich Menschen an einer Corona-Infektion. | |
> Während die Infektionszahlen steigen, sinkt die Anteilnahme. | |
Bild: Hinter jeder Zahl steckt ein Schicksal – eine Tatsache, die oft vergess… | |
Wie weit reicht der Gewöhnungseffekt einer Gesellschaft? Diese Frage | |
stellte ich mir, als im Januar zum ersten Mal mehr als eintausend Menschen | |
an einem einzigen Tag in Folge einer Corona-Infektion starben. Ich dachte: | |
müsste jetzt nicht irgendetwas passieren? Etwas unternommen werden? Wäre | |
ein Mensch, der mir nahe ist, unter diesen eintausend Verstorbenen, würde | |
ich dann einfach weiter meinem Tag nachgehen? Würde ich nicht denken, dass | |
die Welt aufhören müsste sich zu drehen? Und: Ist das jetzt alles normal? | |
Nein, ist es nicht. Aber es fühlt sich so an, für viele von uns. Auch für | |
mich. [1][Die hohen Todeszahlen und die hohen Zahlen an Erkrankten] | |
berühren uns nicht mehr wie vor einem Jahr. Wir nehmen sie wahr. Wir sind | |
vielleicht schockiert. Aber wir spüren kein Mitgefühl mehr. Dabei hat sich | |
nichts geändert. Wobei, eigentlich doch, zum Schlimmeren: Es grassiert ein | |
neues Virus, das noch ansteckender und tödlicher ist als das alte. Mehr | |
Menschen erkranken, mehr Menschen sterben. | |
Der Gewöhnungseffekt bei uns Menschen, er kann sehr weit gehen. Es gibt | |
unzählige Studien dazu. In vielen ist die Rede von einem „Nachlassen des | |
Mitgefühls“. In seiner Studie aus dem Jahr 2015 spricht der führende | |
[2][Psychologie-Forscher Paul Slovic sogar von einem „Kollaps des | |
Mitgefühls“]: Und zwar umso deutlicher, je mehr Menschen betroffen sind. Es | |
fällt uns leichter, mit einem einzigen Menschen Mitgefühl zu haben als mit | |
eintausend. Das liege daran, so Slovic, dass wir diesen einen Menschen, mit | |
Namen und Gesicht, als „kohärente Einheit“ wahrnehmen, als Individuum – | |
anders als eine große, nicht zu identifizierende Masse. | |
In einer anderen Studie aus dem Jahr 2014 untersuchten US-amerikanische | |
Wissenschaftler*innen die Spendenbereitschaft für kranke Kinder. Das | |
Ergebnis: Je mehr Kinder betroffen waren, umso stärker sank die | |
Bereitschaft ihnen zu helfen. Schon bei zwei kranken Kindern anstatt einem | |
kranken Kind ließ die Spendenbereitschaft nach. Das Leid nimmt zu, unser | |
Mitleid ab. Ein gefährliches Paradox. | |
Ein Paradox, dessen Auswirkungen wir in der Pandemie sowohl in der | |
Gesellschaft als auch in der Politik beobachten: Standen vor einem Jahr | |
noch Menschen an Fenstern und klatschten für das medizinische Personal, | |
sehen wir heute davon nichts mehr – obwohl viele Pflegekräfte und | |
Ärzt*innen [3][nach einem Jahr Pandemie an ihre Grenzen kommen.] Wurden | |
politisch vor einem Jahr bei viel niedrigeren Infektionszahlen strikte | |
Maßnahmen beschlossen und durchgesetzt, wird heute gewartet. Obwohl mit | |
jedem Tag Warten mehr Menschen erkranken und sterben. Wir reagieren anders | |
als vor einem Jahr. Wir haben uns daran gewöhnt. | |
## Mitgefühl kommt nicht immer von allein | |
Man kann das Mitgefühl-Paradox umgehen. Man kann sich immer wieder bewusst | |
machen, dass die täglichen Infektionszahlen eben das nicht sind: Zahlen. Es | |
klingt banal. Aber es sind Menschen. Ich habe in den vergangenen Monaten | |
immer wieder mit Betroffenen gesprochen, zum Beispiel mit Pfleger*innen, | |
die das Leid auf den Intensivstationen täglich miterleben. Ich habe | |
Berichte über Covid-Kranke gelesen. Ich habe mitgefühlt. Nicht um Angst zu | |
verspüren. Mit Angst hat Mitgefühl nichts zu tun. Ich wollte mitfühlen. | |
Ganz bewusst. Weil ich merkte, dass ich mich an das Leid der anderen | |
gewöhnt hatte. | |
Nun betrifft das Mitgefühl-Paradox nicht nur die Coronapandemie; wir | |
erleben dasselbe bei Geflüchteten, bei der Klimakatastrophe, bei | |
Hungersnöten. Aber wenn es uns nicht einmal gelingt, dieses Paradox zu | |
umgehen, wenn es um Menschen geht, die so nah sind – wie soll es erst bei | |
Menschen funktionieren, die viel weiter weg sind? | |
Der Gewöhnungseffekt betäube uns, heißt es in Paul Slovics Studie. Nur ist | |
gerade, mitten in einer Pandemie, der ungünstigste Zeitpunkt gefühlstaub zu | |
sein. Also müssen wir uns daran erinnern, was es heißt Mitgefühl zu haben. | |
[4][Mitgefühl für Angehörige], für Erkrankte, für sozial isolierte Kinder | |
und Schüler*innen, für überforderte Eltern, für Selbständige mit | |
Existenzängsten. | |
Mitgefühl kommt nicht immer von allein. Manchmal muss man sich anstrengen, | |
es aufrechtzuerhalten. Anders geht es nicht. Wozu Gewöhnung an Leid führt, | |
wissen wir inzwischen: Zu noch mehr Leid. Also strengen wir uns an. | |
5 Apr 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746 | |
[2] https://www.deutschlandfunkkultur.de/forschung-zur-empathie-einzelschicksal… | |
[3] /Corona-und-das-Ende-der-Solidaritaet/!5678124 | |
[4] /Soziale-Ungerechtigkeit-in-Deutschland/!5675361 | |
## AUTOREN | |
Gilda Sahebi | |
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