# taz.de -- Mitgefühl in der Pandemie: Blankliegende Nerven, harte Urteile | |
> Uns droht ein Empathieverlust durch Fingerzeigen. Alle sind schuld an | |
> irgendwas. Wenn Solidarität an Bedingungen geknüpft wird, ist sie | |
> hinfällig. | |
Bild: AstraZeneca oder Biontech? Viele Menschen sind verunsichert | |
Überall ist die Rede von Solidarität. Ich kann kaum aushalten, wofür dieser | |
Begriff in Zeiten der Pandemie alles herhalten muss. Neuerdings hierfür: | |
Die Älteren verhielten sich unsolidarisch, wenn sie eine Impfung mit | |
[1][AstraZeneca] ablehnten – weil die jungen Leute und Familien ein Jahr | |
lang so viele Opfer gebracht hätten, um sie zu schützen. Und jetzt das, ihr | |
treulosen Alten! | |
Bei dieser Argumentation läuft so viel kreuz und quer, dass ich nicht weiß, | |
wo ich anfangen soll. Zunächst einmal sind wir nicht zu Hause geblieben, um | |
die Älteren zu schützen, sondern um den Kollaps unseres Gesundheitssystems | |
und damit letztlich unserer Gesellschaft zu verhindern. Auch sterben nicht | |
nur Hochbetagte an Corona, sondern Menschen quer durch alle Altersgruppen, | |
angefangen bei Kindern. | |
Zudem kommt bei der Entscheidung älterer Menschen gegen AstraZeneca einiges | |
zusammen. Meine Eltern haben sich wegen Vorerkrankungen dagegen | |
entschieden. Viele sind aufgrund der medialen Berichterstattung | |
verunsichert – erst sollte den über 64-Jährigen der Impfstoff wegen | |
gesundheitlicher Risiken nicht verabreicht werden, jetzt sind es die | |
Jungen, die gefährdet sind. Dann vielleicht doch lieber Biontech? Selbst | |
wenn diese Bedenken nicht der aktuellen wissenschaftlichen Forschungslage | |
entsprechen, kann ich ihnen das nicht vorwerfen. Ehrlich gesagt finde ich | |
es selbst schon schwierig genug, bei der permanenten Berieselung zum Thema | |
Corona nicht nur auf dem neusten Stand zu bleiben, sondern mir gefühlt | |
jeden Tag zu einem neuen Thema eine Meinung bilden zu müssen. Ich bin | |
dauermüde und dauerüberfordert davon – und das mit gerade mal knapp Ü40. | |
Doch es ist noch etwas anderes, das mich an der ganzen Sache wütend macht. | |
Nämlich die Tatsache, dass Solidarität dabei zu einer Art Kuhhandel | |
verkommt. Solidarität ist aber kein billiges Tauschgeschäft. Es ist nicht | |
einmal ein „Wie du mir, so ich dir“. Solidarität heißt, für Schwächere | |
einzustehen, no matter what. Denn wenn sie an Bedingungen geknüpft wird, | |
ist sie hinfällig. | |
## Wir entscheiden, wie wir aus dieser Krise herausgehen | |
Ich weiß, dass es viel verlangt ist, in der aktuellen Situation über den | |
eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Wir alle sind nach mehr als einem Jahr | |
Pandemie mit unseren Nerven am Ende, und ich merke selbst, wie viele meiner | |
Ansichten radikaler geworden sind. | |
Genau deshalb sollten wir aufpassen. Jede*r zeigt mit dem Finger auf wen | |
anders, alle sind schuld an irgendwas. Wir erleben gerade einen | |
[2][kollektiven Verlust an Empathie], der mich gruseln lässt. „Empathie ist | |
die Basis menschlichen Zusammenlebens“, sagte der deutsch-jüdische | |
Psychoanalytiker Arno Gruen. Wenn wir als freiheitlich-demokratische | |
Gesellschaft am anderen Ende des Coronatunnels rauskommen wollen, sollten | |
wir nicht zulassen, dass unsere Grundwerte ausgehöhlt werden und zu Phrasen | |
verkommen. Wir können uns entscheiden, wie wir aus dieser Krise | |
herausgehen: härter als zuvor – oder empathischer. | |
10 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Caroline Kraft | |
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