# taz.de -- Dokumentarfilm „Cunningham“ im Kino: Tanzen in grünen Parks | |
> Seine Stücke waren oft Modelle sozialer Prozesse. Der Film „Cunningham“ | |
> von Alla Kovgan über den Choreografen ist ein virtuoses Bildwerk. | |
Bild: Punktlandung vor Punktlandschaft: Merce Cunninghams Tanzstück „Summers… | |
Man sieht seinen langen schmalen Rücken, er geht einen Flur entlang. Blick | |
aus dem Fenster auf eine Straßenecke New Yorks, Verkehr ist hörbar. | |
Großaufnahme seiner Füße, barfuß auf den Zehenspitzen und wieder auf ganzer | |
Sohle. Das schwarzweiße Archivmaterial ist zerkratzt, es taucht in | |
Bildfenstern auf der großen Leinwand auf, als ob man auf kleine Fotos in | |
alten Alben schaute. Er habe einen Übungsraum hinter seiner kleinen Wohnung | |
in New York gehabt, Feuerholz zum Heizen gesammelt, hört man Merce | |
Cunningham erzählen. | |
Die Regisseurin Alla Kovgan hat unglaublich viel ausdrucksstarkes | |
Archivmaterial (Fotos, Filme, Interviewausschnitte) aufgetrieben über die | |
frühen Jahre des [1][Choreografen Merce Cunningham]. Sie konzentriert sich | |
in ihrem Film „Cunningham“ auf die Zeit von 1944 bis 1972, als seine erste, | |
1953 gegründete Compagnie sich auflöste. So geschickt schneidet sie das | |
Material aneinander, dass der Eindruck entsteht, Cunningham und seine | |
TänzerInnen, der Komponist John Cage und der Künstler Robert Rauschenberg | |
würden ihre legendäre Geschichte selbst erzählen. | |
Wechselnde Stimmen von Tänzerinnen, Cage und Cunningham berichten amüsiert | |
über die erste Tour seiner jungen Compagnie in einem VW-Bus durch die USA. | |
Cage spielte Scrabble mit dem Fahrer, sammelte Pilze und organisierte | |
Picknicks, Geld gab es kaum für die Matineen in Colleges und Universitäten. | |
So viel hartes Training und so wenige Auftritte, klagt eine Tänzerin, Cage | |
erinnert sich vergnügt an einen Verriss durch einen Kritiker, der die | |
Aufführungen für Betrug hielt. Cunningham hatte manche Kostüme selbst | |
gestrickt, farbige Monster mit Verlängerungen der Glieder. Manchmal ließ er | |
sich überraschen und brachte Tanz mit einer Komposition zusammen, die er | |
vorher noch nicht gehört hatte. | |
Es sind unterhaltsame Anekdoten, mit denen die Helden auf ihre wenig | |
erfolgreichen Anfänge zurückblicken. Und doch erzählen sie von einer | |
Kunstform, die durch vieles, was an ihr neu war, verstörte. Merce | |
Cunningham hatte den Tanz verändert. Er verband die virtuose Beinarbeit des | |
Balletts mit einer neuen Beweglichkeit des Torsos, der in der Arabeske ins | |
Schlenkern geraten konnte, kippte und drehte. | |
## Aufbruch ins Unbekannte | |
Er selbst trainierte seine Tänzer, weil sie von nirgendwo mitbringen | |
konnten, was er wollte, und ließ dabei doch dem Einzelnen Raum, seine | |
eigenen Stärken zu entdecken. Das Aufbrechen von Tanzkonventionen, aber vor | |
allem der Verzicht auf Bezugssysteme, die dem Tanz eine Geschichte oder | |
symbolische Bedeutung unterlegten, das war der Aufbruch ins Unbekannte. | |
Nichts interpretieren, sondern den Moment erzeugen. Visuelle Ereignisse | |
gestalten, die sich unabhängig von der Musik, manchmal von | |
Zufallsoperationen gesteuert, entwickelten, das brachte Cunningham ab den | |
frühen 1950er Jahren als Innovation in den Tanz ein. | |
Das alles lässt die russische Regisseurin Alla Kovgan über das | |
Archivmaterial erzählen, doch das ist nur ein Element in ihrer visuellen | |
Strategie. 14 Tanzstücke von Merce Cunningham hat sie zusammen mit der | |
Choreografin Jennifer Goggans ausgewählt, die von Tänzern der letzten | |
Cunningham Compagnie, die bis zu seinem Tod 2009 existierte, brillant | |
getanzt werden, an immer wieder anderen Orten: in grünen Parks, in einem | |
Schlosshof, in Ausstellungshallen, in alten Stadtsälen, auf Dächern in New | |
York. | |
In 3-D-Technik umkreist dabei die Kamera von Mko Malkhasyan die Tänzer, man | |
erlebt die Szenen nicht frontal, sondern aus mehreren Perspektiven. | |
## Transparenz und Leichtigkeit | |
Freilich sind es stets nur kurze Ausschnitte, sehr spannend gewählt. In die | |
modernen Kompositionen von John Cage, Morton Feldman oder Christian Wolff | |
mischt sich die Soundkulisse der Umgebung, der Komponist Hauschka hat | |
diesen Ton entworfen. So erhalten die Stücke eine Durchlässigkeit und einen | |
Atem, der ihre Transparenz und Leichtigkeit steigert und sie in der | |
Gegenwart verankert. | |
Das macht „Cunningham“ zu einem opulenten, schwelgerischen Kunstwerk, in | |
dem die Bilder manchmal überinformiert sind. Alte Aufnahmen der Tänze | |
schieben sich als kleine Fenster in die neuen Inszenierungen. Buchstaben | |
schreiben sich ins Bild, Zitate aus Liebesbriefen von Cage und Cunningham. | |
Plötzlich rahmen schön gezeichnete Tiere, ebenfalls von Cunningham, die | |
alten Fotos. | |
Alles in den neu aufgenommenen Tanzstücken ist mit einer Perfektion | |
ausgeführt, die nicht ganz der Rauheit, den schwierigen | |
Entscheidungsfindungen für die Tänzer, der Ungewissheit aus der | |
Entstehungszeit entspricht. Dass die TänzerInnen nicht einfach einem Plan | |
folgen konnten, sondern selbst Entscheidungen treffen mussten, machte | |
einige Stücke Cunninghams dann doch zu Modellen sozialer Prozesse, von | |
komplexen Organisationsformen. Nun hört man im Film vom Risiko und vom | |
Ausprobieren und sieht dabei die perfekte Beherrschung. | |
## Beeindruckende Virtuosität | |
Heute ist Cunningham selbst zu einem Klassiker geworden, mit dessen | |
Material viele Choreografen weitergearbeitet haben. Der Sorge, dass man | |
deshalb das ehemals Neue vielleicht nicht mehr zu erkennen vermag, begegnet | |
der Film mit beeindruckender Virtuosität in allen Tanzszenen. | |
Dass dabei in Paris, New York aber auch auf dem Schlosshof in Stuttgart, in | |
dem Hamburger Elbtunnel oder auf der Museumsinsel Hombroich getanzt wird, | |
verwundert etwas und ist den vielen Produzenten in den USA, Frankreich und | |
Deutschland und den regionalen Filmförderanstalten geschuldet. Es | |
überrascht manchmal, einen Ort wiederzuerkennen, der mit Cunninghams | |
Geschichte nicht eben viel zu tun hat. Dass er und seine TänzerInnen | |
allerdings oft im Freien auftraten, sieht man im Archivmaterial. | |
Der Cunningham Trust, der das Erbe des Choreografen verwaltet, hat für dies | |
Projekt der Tanz- und Dokumentarfilmerin Alla Kovgan erstmals die Rechte | |
zur Verfilmung der Choreografien erteilt. Weit entfernt von einem Biopic, | |
ist der Film selbst ein virtuoses Bildwerk. Die kargen, spröden und | |
minimalistischen Tendenzen, die Arbeit mit vielen Wiederholungen, die | |
Cunningham als Choreograf auch ausgemacht haben, lassen sich hier nur am | |
Rande erahnen, während die tänzerischen Energien in allen Farben vor | |
unseren Augen explodieren. | |
19 Dec 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Berliner-Festival-Tanz-im-August/!5619649 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
## TAGS | |
Dokumentarfilm | |
Zeitgenössischer Tanz | |
John Cage | |
Deutscher Film | |
John Cage | |
Dokumentarfilm | |
Berlin Ausstellung | |
Zeitgenössischer Tanz | |
Tanz im August | |
Dokumentarfilm | |
Staatsoper Berlin | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Drama „Grand Jeté“ in den Kinos: Der Körper als Werkzeug | |
Im Mittelpunkt des Films „Grand Jeté“ von Isabelle Stever steht eine | |
gebrochene Ballerina. Die beginnt ein inzestuöses Verhältnis mit ihrem | |
Sohn. | |
Tonwechsel zu John Cages Geburtstag: So langsam wie möglich | |
Seit 2001 läuft im Buchardikloster in Halberstadt ein 639 Jahre langes | |
Orgelstück von John Cage. Nun fand ein Tonwechsel statt. | |
Kino-Doku „Die Welt vor deinen Füßen“: Spaziergang mit einem Unbekannten | |
Jahrelang lief Matt Green durch jede Straße von New York. Der | |
Dokumentarfilm „Die Welt vor deinen Füßen“ erzählt von diesem | |
außergewöhnlichen Projekt. | |
Ausstellung über Prepared Pianos: Ein Klavier aus Klopapier | |
Eine Ausstellung im KW Institute of Contemporary Art Berlin zeigt | |
Kunst-Pianos. Sie stammen aus der Sammlung des Mäzens Francesco Conz. | |
Aufbruch beim Staatsballett Berlin: Wärst du lieber Bär oder Androide? | |
Sprung in andere Zeiträume: Mit Tanzstücken von Alexander Ekman und Sharon | |
Eyal kann das Staatsballett Berlin neue Seiten zeigen. | |
Berliner Festival „Tanz im August“: Mehr geistige Gymnastik | |
In Berlin ist das Festival „Tanz im August“ zu Ende gegangen. Es war | |
virtuos und kulinarisch, aber es genügt sich und seinen Konsument*innen | |
selbst. | |
Nachruf Klaus Wildenhahn: Ein Meister der Grautöne | |
Klaus Wildenhahn hat in den 60er-Jahren den deutschen Dokufilm neu | |
erfunden. Ein Nachruf auf einen, der keine Scheu vor dem Alltäglichen | |
hatte. | |
Festival für neues Musiktheater: Erinnerungen an eine Moderne | |
Zum letzten Mal gab es an der Staatsoper „Infektion!“, das „Festival für | |
neues Musiktheater“. Jürgen Flimm eröffnete 2011 damit seine Intendanz. |