# taz.de -- Kino-Doku „Die Welt vor deinen Füßen“: Spaziergang mit einem … | |
> Jahrelang lief Matt Green durch jede Straße von New York. Der | |
> Dokumentarfilm „Die Welt vor deinen Füßen“ erzählt von diesem | |
> außergewöhnlichen Projekt. | |
Bild: Stadtwanderer bei der Arbeit: Matt Green zu Fuß unterwegs | |
Ohne Eile schlendert ein Mann durch die Straßen, kommt an einem Burger King | |
vorbei und einer Müllkippe, er passiert eine Gruppe Polizist*innen, geht | |
durch eine enge Gasse, winkt Kindern auf einem Spielplatz. Es könnte sich | |
um jede x-beliebige Stadt handeln – doch dann erscheint die bekannteste | |
Skyline der Welt im Hintergrund. | |
Der Mann ist Matt Green, und Matt Green hat eine Mission: Er möchte jede | |
Straße, jeden Friedhof und jede Uferpromenade von [1][New York City] | |
erlaufen. Die Doku „Die Welt vor deinen Füßen“ von Jeremy Workman, die | |
bereits 2018 in den USA gezeigt wurde und jetzt nach Deutschland kommt, | |
begleitet ihn auf diesem XXL-Spaziergang. | |
Rund 13.000 Kilometer sind es, die Green da läuft. Ursprünglich, so | |
berichtet der inzwischen Enddreißigjährige, habe er damit gerechnet, zwei, | |
zweieinhalb Jahre mit seinem Spaziergang zu verbringen. Sechs Jahre nach | |
Start seines Projekts läuft er immer noch. Was die Motivation dafür ist, | |
Job und Wohnung zu kündigen, um die Straßen New Yorks abzulaufen, kann er | |
selbst nicht erklären. Green sagt, er habe kein konkretes Ziel, wolle weder | |
die Welt verbessern noch sein Laufen kommerziell ausschlachten. | |
Er empfindet, „dass es auf eine schwer greifbare oder schwer zu erklärende | |
Weise wichtig ist. Der Punkt ist, dass ich gar nicht genau weiß, was der | |
Punkt ist. Es ergibt sich einfach dadurch, dass ich immer weitergehe.“ | |
Green wusste, worauf er sich einlässt: Bereits im Jahr 2010, im Alter von | |
29 Jahren, lief er in fünf Monaten einmal quer durch die Staaten, von der | |
Ost- zur Westküste, genauer: von Rockaway Beach in Queens nach Rockaway | |
Beach in Oregon. Schon das waren 3.100 Meilen, also knapp 5.000 Kilometer. | |
Dass er für die 8.000 Meilen, die seine Strecke in New York ausmacht, so | |
viel länger braucht, hat konkrete Gründe: Matt Green interessiert sich | |
hingebungsvoll für seine Umgebung, hält bei jedem Detail an, um es in aller | |
Ruhe zu fotografieren. Er schlendert ohne Eile, unterhält sich mit den | |
Menschen, die ihm auf seinem Weg begegnen. Und er recherchiert wie | |
wahnsinnig, um in seinem Blog „I’m just walkin'“ darüber zu schreiben. W… | |
ihn ein Thema interessiert, liest er sich halt durch Ausgaben der New York | |
Times aus dem 19. Jahrhundert. | |
## Enormes Wissen von New York | |
Das ist einer der spannendsten Aspekte der Dokumentation. Nicht nur Matt | |
Greens ausgefallenes Projekt an sich, sondern auch sein enormes Wissen von | |
New York, das er bereitwillig teilt, machen „Die Welt vor deinen Füßen“ | |
außergewöhnlich. Die Stadt, die selbst die Personen gut kennen, die noch | |
nie da waren, erzählt bei ihm ganz neue Geschichten. Greenwich Village, | |
SoHo oder die Upper East Side sind nicht zu sehen, es gibt wenige Aufnahmen | |
der Skyline, der typischen Brownstone-Häuser oder der Feuertreppen, die man | |
aus jedem New-York-Film kennt. | |
Stattdessen zeigt Green auf eine unscheinbare Wand in Brownsville, | |
Brooklyn, die einst zur ersten Klinik der USA für Geburtenkontrolle | |
gehörte. Die Frauenrechtlerin und Krankenschwester Margaret Sanger hatte | |
sie im Oktober 1916 eröffnet; nur neun Tage später musste sie wieder | |
schließen. Heute weist kein Schild darauf hin, was für eine Geschichte sich | |
hier verbirgt. | |
Wie ein Archäologe ergründet Matt Green die Schichten unter den Schichten. | |
Er weiß, warum es Mammutbäume in New York gibt, er führt zur Wall Street, | |
wo sich einst der Sklavenmarkt der Stadt befand, und deutet, ebenfalls an | |
der Wall Street, auf Einschusslöcher in den Wänden, die von einem Anschlag | |
italienischer Anarchisten stammen, 1920 war das. | |
## Miete muss er keine zahlen | |
Was der Doku gänzlich fehlt, ist eine pragmatischere Sicht auf Matt Greens | |
Unterfangen. Zu Beginn werden einige praktische Details geklärt. Wie | |
finanziert er sich? Nun, offensichtlich hat der ehemalige Ingenieur Geld | |
gespart. Ein wichtiger Punkt ist, dass er keine Miete zahlen muss. | |
Stattdessen schläft er bei Freund*innen oder bei Menschen, die seinen Blog | |
kennen und ihn eingeladen haben. | |
Oft macht er Catsitting (und hat ein erstaunlich gutes Gedächtnis für die | |
Namen aller Katzen, die er bereits gefüttert hat), hütet mal ganze | |
Luxusapartments und verbringt dann wiederum die Nacht auf dem Billardtisch | |
einer WG. | |
Deswegen, so rechnet er vor, benötige er nur 15 Dollar pro Tag für Essen | |
und Nahverkehr. Das Essen sei nicht teuer, da er, anstatt sich ein Sandwich | |
für 6 Dollar zu leisten, Reis mit Bohnen für 75 Cent koche. Es mutet | |
merkwürdig an, dass Regisseur Jeremy Workman hier nicht nachhakt. Soll man | |
davon ausgehen, dass Matt Green seit den sechs Jahren, die er zum Ende des | |
Films bereits unterwegs ist, jeden Tag nur wenige Dollar für Essen | |
ausgegeben hat? | |
## Wie oft gehen die Schuhe kaputt? | |
Auch andere alltägliche, aber wichtige Fragen werden höchstens gestreift. | |
In nur zwei Aufnahmen von unzähligen Takes ist Green mit Wasserflasche zu | |
sehen; nie trägt er eine Tasche. Wann trinkt er? Wie oft gehen die Schuhe | |
kaputt? Wer zahlt seine Handyrechnung? Und wo geht er auf Toilette? | |
Auch die Tatsache, dass er als weißer Mann ziemlich unbeschwert durch die | |
Straßen gehen kann (nie wurde er ausgeraubt oder überfallen), wird wenig | |
thematisiert. Für Frauen wäre es allein schon aus praktischen Gründe | |
(Stichwort Toilette) sehr viel schwieriger, ein derartiges Unterfangen in | |
Angriff zu nehmen. | |
Wie privilegiert Matt Green ist, wird deutlich, als andere Flaneure zu Wort | |
kommen, darunter der Journalist Garnette Cadogan. Cadogan ist gebürtiger | |
Jamaikaner, ein Schwarzer, der sich „verkleiden“ muss, um das zu machen, | |
was Green so unbeschwert tut. „Ich gehe durch eine Verwandlung, um den | |
Anschein von Kriminalität zu vermeiden“, erläutert er. | |
## New York ohne die üblichen, ausgedienten Bilder | |
Zu dieser Verkleidung gehört, „brave“ Klamotten zu tragen statt eines | |
Kapuzenpullis, sich auf eine bestimmte Weise zu bewegen, um nicht | |
bedrohlich zu wirken, und immer Brille und Buch dabei zu haben. Die | |
fröhlich-unbesorgte Art, wie Cadogan kurz in „Die Welt vor deinen Füßen“ | |
geschnitten wird, zeigt eine große Schwachstelle der Dokumentation: Mit der | |
Realität will man sich lieber nicht so genau auseinandersetzen. | |
Und doch lohnt es sich, über dieses offensichtliche Manko hinwegzusehen. | |
Jeremy Workmans stimmungsvolle Aufnahmen und viele Schnitte stilisieren | |
[2][eine gewisse urbane Romantik von New York, ohne dabei die üblichen, | |
ausgedienten Bilder zu zeigen]. Und Protagonist Matt Green ist nicht nur | |
ein Sympathieträger, den man gerne auf seinen Spaziergängen begleitet, | |
sondern auch ein ganz außergewöhnlicher Kenner von Architektur, Geschichte, | |
Stadtplanung und Flora und Fauna seiner Wahlstadt. | |
„Die Welt vor deinen Füßen“ lehrt uns, näher hinzuschauen. „Das ganze | |
Kabinett der Zufallsfunde und Entdeckungen werden erst am Ende zu dem | |
Puzzle, in das sie als Teilstücke passen“, sagt Green am Ende des Films. | |
Der Teufel liegt im Detail, aber eben auch die Schönheit, die Geschichte | |
und die Beschaffenheit einer Stadt, ihre Tiefe und Bedeutung. | |
(Übrigens: Seit die Dokumentation 2018 in den USA erschien, ist Matt Green | |
damit ziemlich beschäftigt, zuletzt war er mit Regisseur Workman auf | |
Promotour in Deutschland. Sein letzter Blogbeitrag vom 14. März, Tag 2.631, | |
verspricht: „Still at it!“ Die Straßen von New York mag er alle abgelaufen | |
haben, auf die Ergebnisse seiner Recherchen dürfen wir noch hoffen.) | |
13 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
Isabella Caldart | |
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