# taz.de -- Festival für neues Musiktheater: Erinnerungen an eine Moderne | |
> Zum letzten Mal gab es an der Staatsoper „Infektion!“, das „Festival f�… | |
> neues Musiktheater“. Jürgen Flimm eröffnete 2011 damit seine Intendanz. | |
Bild: Szene aus Salvatore Sciarrinos Oper „Ti vedo, ti sento, mi perdo“ mit… | |
Jürgen Flimm hat die Hausschlüssel seinem Nachfolger Matthias Schulz | |
übergeben. Die Berliner Staatsoper residiert wieder Unter den Linden, aber | |
letzten Samstag war zu sehen, dass ihm der Abschied schwerfällt. Ist die | |
„Infektion!“ wirklich vorbei, mit der er das alte Haus jeden Sommer mit | |
modernem Theater anstecken wollte, als es auf der Intensivstation im Westen | |
der Stadt lag? Nein, nicht ganz. | |
Auf der Superbühne des großen Saales, der immer noch ungesund nach Lack | |
riecht, hat George Tsypin, Bildhauer und Architekt, die Installation einer | |
Opernprobe aufgebaut. Flimm schaut in der Premiere persönlich nach, ob | |
alles in der richtigen Unordnung ist, begleitet von einer Assistentin in | |
weißer Abendrobe. Das Publikum hat schon Platz genommen, aber ein halbes | |
Dutzend Statisten in schwarzen Gewändern mit weißer Halskrause müssen noch | |
ein viel zu langes Brett auf wackligen Holzböcken in Position bringen. | |
Wird schon schief gehen, obwohl alles wunderschön aussieht. Mächtige | |
Seilwinden und Sandsäcke als Gegengewichte für transparente Gazevorhänge | |
stehen neben Gerüststangen für ein Portal mit Durchblicken in entfernte | |
Innenhöfe. Nichts steht fest, auch die Musik führt in die Irre. Das | |
Orchester spielt eine barocke Festouvertüre, aber es klingt nicht barock, | |
weil im Graben nicht die hier übliche „Akademie für Alte Musik“ sitzt, | |
sondern die Staatskapelle in großer Besetzung mit Klavier, Bassklarinette | |
und gestopften Trompeten. | |
Maxime Pascal dirigiert Salvatore Sciarrinos neuste Oper, letzten Herbst in | |
Mailand an der Scala uraufgeführt. Sie heißt „Ti vedo, ti sento, mi perdo“ | |
und ist eine Hommage an Alessandro Stradella, einen ebenso skandalösen wie | |
verehrten Popstar im Italien der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. | |
Stradella war Sänger, Gauner, Verführer und Komponist in einem, nur wenige | |
seiner Stücke sind überliefert und zeigen einen kühnen, expressiven Stil, | |
der Anlass zum Vergleich mit dem nur wenig älteren Maler Caravaggio gibt. | |
## Das Leben des Genies zwischen Affären und Mördern | |
Auch davon spricht Sciarrino, aber es geht ihm nicht um die historische | |
Vergangenheit. Sein selbst verfasster Text erzählt das Leben des Genies | |
zwischen Affären und Mördern nur indirekt. Stradella tritt nicht auf, alle | |
warten nur auf ihn, Adlige und ihre Diener, man probt eine Kantate. Laura | |
Aikin, die Primadonna, braucht eine neue Arie. „Dass ich meine Glut stille, | |
ist nicht glaubhaft“, singt sie, Stradella zitierend. | |
Der Tenor Charles Workman und der Bass Otto Katzameier diskutieren als | |
Experten für den Zeitgeist über Kunst, Lebenswandel, Moral und Schicksal. | |
Einigen können sie sich nie, die Probe dauert nun schon Jahre und wird erst | |
mit der Nachricht beendet, dass Stradella jetzt doch erstochen worden sei – | |
soweit man wisse. | |
Unterhaltsam sind die ironisch ernsthaften Diskurse schon, aber sie könnten | |
das Stück niemals über den ganzen Abend tragen, der mit einer Pause gute | |
drei Stunden dauert. Sie sind für Salvatore Sciarrino, den 70 Jahre alten | |
Italiener, nur das Gerüst, die Wahlverwandschaft seiner eigenwilligen, | |
flüsternd allen Tendenzen der Gegenwart widersprechenden Musik mit der | |
großen Zeit des italienischen Barock zu inszenieren. | |
Er zitiert ganze Passagen oder auch nur melodische Elemente aus Stradellas | |
überlieferten Kompositionen, die sich dann wie ein Echo in den Singstimmen | |
und den Klangmustern des Orchesters fortsetzen. In technischen Sinne jedoch | |
ist an Sciarrinos Musik nichts barock, zu hören sind mikrotonal fließende | |
Feinstrukturen und Gesangslinien, die zwar genau dem Text folgen, aber | |
dennoch nur flüchtige Elemente in sorgsam ausbalancierten Klangräumen am | |
Übergang zur Stille sind. | |
## Die Gefahr des bloß Dekorativen | |
Für diesen Eigensinn jenseits jeder gesellschaftlichen oder politischen | |
Position ist Sciarrino berühmt, manchmal auch gescholten, denn in der Tat | |
ist die Gefahr des bloß Dekorativen groß. Für ein Gebirge wie „Macbeth“, | |
das Sciarrino 2002 bearbeitet hatte, reichten seine Mittel nicht aus. | |
Der abwesende Held des neuen Stücks jedoch gibt ihnen ohne dramatischen | |
Zwang die Zeit, ihre Schönheit zu entwickeln und Flimm nimmt als Regisseur | |
die Figuren behutsam an die Hand, um sie, in üppig geschnittene Kleider | |
ihrer Zeit gehüllt, durch eine leise Komödie der Erinnerungen an eine | |
musikalische Moderne der Vergangenheit zu führen, deren Glanz in Sciarrinos | |
Musik zeitlos wird. | |
Mit diesem schwebend leichten, überragend gut gesungenen Meisterwerk also | |
endet das Projekt eines „Festivals für neues Musiktheater“, das Jürgen | |
Flimm mit dem bemerkenswerten Satz vorgestellt hatte, er selbst verstehe | |
vom Musiktheater des 21. Jahrhunderts „rein gar nichts“. Eben deswegen sei | |
die Infektion nötig. | |
Hoffentlich ist sie eine unheilbare, erworbene Schwächung des Immunsystems | |
der Staatsoper für neue Ideen geworden. Seinem wörtlichen Anspruch hat das | |
Festival indessen nie entsprochen. Es gab viel angestrengte Kleinkunst. In | |
diesem Jahr „Ein Porträt des Künstlers als Toter“ von Franco Bridarolli u… | |
Davide Carnevali, die ihre in sich selbst verliebten, musikalischen und | |
theatralischen Nullnummern mit den Opfern der argentinischen | |
Militärdiktatur schmücken möchten. | |
## Wirklich neue Produktionen gab es nicht | |
Aber es gab auch viel Sciarrino, neben „MacBeth“ standen „Infinito Nero�… | |
„Vanitas“, „Lohengrin“ und „Luci mie traditrici“ auf dem Programm. … | |
neu waren diese Produktionen alle nicht, so wenig wie die Rekonstruktion | |
der „Originale“ von Karlheinz Stockhausen, der 1964 am Versuch scheiterte, | |
eines seiner radikal determinierten Stücke als Beitrag zur ebenso radikal | |
anarchistischen Fluxus-Bewegung zu verkaufen. | |
Flimms „Infektion!“ war immer vor allem Erinnerung an eine Moderne, die | |
fortgesetzt werden sollte. Unvergesslich bleibt Katie Mitchells Idee, unter | |
dem Titel „Footfalls/Neither“ eine Oper entstehen zu lassen, die es gar | |
nicht gibt. Morton Feldmann, der Musiker, und Samuel Beckett, der Dichter, | |
fanden beide die Gattung der Oper abscheulich. Mitchell führte sie zusammen | |
in einer strengen Geometrie der Bühne, die beiden in der Reduktion | |
sprachlicher wie musikalischer Floskeln auf gestische und akustische | |
Elementarformen gerecht wird. | |
Wem das noch nicht wegweisend genug war, konnte danach fast jedes Jahr in | |
die Werkstatt des Schillertheaters gehen, um Teile aus den „Europeras“ von | |
John Cage zu erleben. Man saß zwischen Plattenspielern, Konzertflügeln und | |
Mitgliedern des Ensembles und hörte zu, wie sie das komplette Repertoire | |
des großen Hauses, in Schnipsel zerschnitten und geordnet nach den | |
Zufallsregeln des „I Ging“ gleichzeitig und in nächster Nähe zur Aufführ… | |
brachten. Größer als in diesem engen Raum war die große Oper nie. Auch nur | |
eine Erinnerung an eine Moderne der Vergangenheit, aber sie wird bleiben. | |
9 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Niklaus Hablützel | |
## TAGS | |
Staatsoper Berlin | |
Infektion | |
Dokumentarfilm | |
Deutsche Oper | |
Deutsche Oper | |
Staatsoper Berlin | |
Theater | |
Staatsoper Berlin | |
Oper | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Dokumentarfilm „Cunningham“ im Kino: Tanzen in grünen Parks | |
Seine Stücke waren oft Modelle sozialer Prozesse. Der Film „Cunningham“ von | |
Alla Kovgan über den Choreografen ist ein virtuoses Bildwerk. | |
Berliner Opernpremieren: Die Wahrheit singen | |
Großer Gesang: „La Sonnambula“ von Vincenzo Bellini an der Deutschen Oper | |
und „La Bohème“ von Giacomo Puccini an der Komischen Oper. | |
Premiere in der Deutschen Oper: Am Ende gut abgefüllt | |
Die Deutsche Oper Berlin zeigt eine 15 Jahre alte Rekonstruktion von Jaques | |
Offenbachs unvollendeter Oper „Les Contes d’Hoffmann“. | |
Claude Debussy träumte von dieser Oper: In der neuen Gruselgruft | |
Die Berliner Staatsoper beauftragte die belgische Komponistin Annelies van | |
Parys mit einer Oper zu E.A. Poes „Der Fall des Hauses Usher“. | |
Arbeitsbedingungen am Theater ändern: Es rappelt in der Kiste | |
Die Konditionen an Theatern sind prekär. Schauspielerinnen, Bühnenbildner | |
und Regisseurinnen wollen das nicht länger hinnehmen. | |
Saisonfinale der Opern in Berlin: Was alles Oper ist | |
Drei Premieren und ein Volksfest: Mit Rossini, Verdi und Schostakowitsch, | |
mit Schnulzen und Virtuosität beenden die drei Berliner Opern die Saison. | |
Kuriosität der Operngeschichte: Verklemmter Samenstau | |
Die Deutsche Oper Berlin hat eine vergessene Oper von Erich Wolfgang | |
Korngold ausgegraben. Sehr schöne Musik, aber dieser Text! Grauslich. |