# taz.de -- Drama „Grand Jeté“ in den Kinos: Der Körper als Werkzeug | |
> Im Mittelpunkt des Films „Grand Jeté“ von Isabelle Stever steht eine | |
> gebrochene Ballerina. Die beginnt ein inzestuöses Verhältnis mit ihrem | |
> Sohn. | |
Bild: Mutter (Sarah Nevada Grether) und Sohn (Emil von Schönfels) in „Grand … | |
In Isabelle Stevers Film „Grand Jeté“ ist das Körperliche der stille | |
Hauptakteur. Mit Wollust, Sinnlichkeit, blanker Triebhaftigkeit oder | |
Sonstigem, das man schnell mit einem Plot assoziiert, der sich mehr für die | |
fleischliche Hülle als den Verstand seiner Figuren interessiert, hat der | |
Film allerdings wenig gemein. Die Physis ist in der katonisch anmutenden | |
Adaption des [1][Romans „Fürsorge“ von Anke Stelling] schlichtes Werkzeug. | |
Und damit etwas, das vor allem einen Nutzen zu erfüllen hat. Etwas, das | |
einzig der Notwendigkeit zu funktionieren unterworfen ist. Folgerichtig | |
sind zunächst nur Körper, ihre Fragmente und Erzeugnisse zu sehen: Ein | |
sehniger Frauenleib gleitet durch das Wasser, dann hält Constantin Campeans | |
stoische Kamera lange auf einen blutgetränkten Fetzen Papier, der im | |
Abfluss einer Toilette treibt. | |
Kurz darauf fixiert sie den Rücken derselben Frau, beobachtet, wie die | |
Muskeln unter der Haut zu wandern beginnen, wenn sie sich bewegt. Das | |
Gesicht von Nadja (Sarah Nevada Grether) wird erst viel später auftauchen. | |
Vorher noch ist sie zu hören: „Nur der kann nicht, der es zulässt, nicht zu | |
können“, antwortet sie auf das Lamento einer Schülerin, die sich heute | |
nicht im Stande fühlt, Ballett zu tanzen. | |
„Grand Jeté“ exponiert die Folgen einer solchen Geisteshaltung, ihre | |
Ursachen spielen hingegen eine untergeordnete Rolle. Wiederholt füllen | |
Nadjas wunde, deformierte Füße das Bild. Ihr Hals ist mit Ekzemen übersät, | |
die an Brandlöcher erinnern. Eigentlich muss sie am Stock gehen. Ihr ganzer | |
Körper ist durch die jahrzehntelange Marter vom Werkzeug zur Bürde | |
geworden. Verweigert sich jetzt zu funktionieren. | |
Dass Nadja nur noch als Tanzlehrerin tätig sein kann, anstatt selbst auf | |
der Bühne zu stehen, kommt einer persönlichen Katastrophe gleich. Als wäre | |
es die einzige logische Antwort darauf, erzählt Isabelle Stevers von der | |
absonderlichen Form der Annäherung zwischen ihr und ihrem Sohn Mario (Emil | |
von Schönfels). | |
Genau genommen ist er selbst Folge ihrer Marter. Als ungeplantes Kind in | |
Jugendjahren, zu dem es nur kam, weil die Pille aufgrund ihrer bulimischen | |
Attacken nicht wirkte. Er wuchs bei Großmutter Hanne (Susanne Bredehöft) | |
auf, und weil es bislang keinen regelmäßigen Kontakt gegeben hat, herrscht | |
eine große Distanz zwischen ihnen. | |
Das ändert sich erst, als sie bei einer Familienfeier aufeinandertreffen | |
und nach anfangs unbeholfenen Annäherungsversuchen entdecken, dass sie ein | |
ähnliches Körpergefühl verbindet. Wie seine Mutter stählt Mario seinen | |
jugendlichen Körper, ist neben der Schule in einem Fitnessstudio tätig. | |
Mehr als das: Wie Nadja nutzt Mario ihn als Werkzeug, um die Zuneigung | |
eines anonymen Publikums zu gewinnen. | |
In einer besonders eigensinnigen Szene tritt er bei einem Wettbewerb an, | |
bei dem mehrere Männer, nicht mehr als eine Maske tragend, darum | |
konkurrieren, wem es länger gelingt, ein zehn Kilogramm schweres Gewicht am | |
Penis zu tragen. Nadja sitzt dabei im Publikum und wirkt dabei zunächst so, | |
als würde sie den skurrilen Anblick nicht ertragen. Später stellt sich | |
jedoch heraus, dass es sein Auftreten war, das ihr Unbehagen ausgelöst hat. | |
Dass er zu sehr mit dem Publikum kokettiere, mahnt sie ihn. Dass es | |
allerdings den viel mehr liebt, der es ignoriert, rät sie ihm. | |
## Mutter und Sohn kommunizieren mit dem Körper | |
Von da an ist es nur noch ein kleiner Schritt hin zur vollkommenen | |
Grenzüberschreitung, die im inzestuösen Austausch von Intimität zwischen | |
Mutter und Sohn besteht. In ihm verwenden beide ihren Körper als Werkzeug, | |
nutzen ihn für stumme Kommunikation, um eine Verbindung aufzubauen, die | |
anders nicht möglich scheint. | |
[2][„Grand Jeté“ bleibt die ganze Zeit über unbeirrbar nüchtern in seiner | |
Erzählweise], unaufgeregt gegenüber dem Tabubruch, der in seinem Zentrum | |
steht. Seine karge Strenge ist es, die über lange Strecken in den Bann | |
zieht. Sie ist es allerdings auch, die jede andere Gefühlsregung gegenüber | |
dem Film als Faszination für seine Kälte verhindert. | |
11 Aug 2022 | |
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## AUTOREN | |
Arabella Wintermayr | |
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