# taz.de -- Die Zukunft des Films: Narrativer Schutzraum | |
> Serien hinterlassen oft eine große Leere. Dagegen wirken Filme in ihrer | |
> Abgeschlossenheit eher tröstlich. Sie werden auch in Zukunft gebraucht. | |
Bild: Dreharbeiten des Hitchcock-Klassikers „Die Vögel“: Der zweidimension… | |
Im Freundeskreis kommt im Gespräch übers Kino oft die Auskunft: „Wir gucken | |
eigentlich kaum noch Filme.“ Stattdessen würde man lieber Serien sehen. Die | |
langen Formate böten mehr Möglichkeiten, komplexe Geschichten zu erzählen. | |
Was selbstverständlich stimmt. Auf anderthalb, zwei oder drei Stunden, die | |
so ein Film meist dauert, gibt es halt weniger Platz, sich den einzelnen | |
Figuren und ihrer Entwicklung zu widmen. | |
Für das Kino bedeuten die Serien, die mehrheitlich daheim oder mobil, in | |
der Regel aber nicht auf der Leinwand zu erleben sind und mit denen | |
Streamingdienste ihre Haupteinnahmen bestreiten, inzwischen eine doppelte | |
Konkurrenz. Schließlich produzieren Anbieter wie Netflix oder Amazon nicht | |
bloß Serien, sondern obendrein immer mehr Spielfilme. | |
Wobei das Angebot im Seriensortiment allein schon mehr als beachtlich ist. | |
Man könnte jetzt in Panik geraten, dass bei dem großen Pensum an | |
abzuarbeitenden Pflichtserien kaum noch Kapazitäten bleiben, sich daneben | |
Spielfilme zuzumuten. Bei Serien gibt es zudem immer diesen sozialen Druck, | |
dass man mit den Freunden oder Kollegen ja im Gespräch bleiben muss, | |
Stichwort: „In welcher Staffel bist du gerade?“ | |
Hinzu kommt das seit einigen Jahren praktizierte [1][„Speedwatching“], bei | |
dem man online mit erhöhter Geschwindigkeit schauen kann, wohlgemerkt so, | |
dass die Dialoge noch zu verstehen sind. Netflix erprobt diese | |
Turbostreamvariante inzwischen als Standardoption für die Zuschauer. Eine | |
einfache Rechnung: Dasselbe Programm plus erhöhte Guckgeschwindigkeit ist | |
gleich mehr Zeit auf der Nutzerseite für das Gesamtstreamingangebot. | |
## Binge-Watching-Burnout | |
Dass Filme nun obsolet würden, ist jedoch nicht zu befürchten. Zumal Serien | |
Risiken und Nebenwirkungen bergen: Schon warnen Wissenschaftler, dass das | |
sogenannte „Binge Watching“, zu deutsch Komaglotzen, bei dem man ganze | |
Serienmarathons absolviert, der Gesundheit schaden kann. Denn die Serien | |
haben für gewöhnlich am Ende jeder Folge den üblichen Cliffhanger. Für die | |
Nachtruhe ist das zweifach von Nachteil: Man geht später zu Bett und das | |
zudem so aufgebracht, dass der Schlaf darunter leidet. | |
Der Grund für diese Struktur: Wo ein Film meist ein Ende findet, und sei es | |
ein offenes, will die einzelne Serienfolge oft bewusst nicht zum Schluss | |
kommen, sie hört einfach auf. Darin unterscheidet sie sich im Zweifel auch | |
von einem Roman, der in der Literatur am ehesten einer Serie entspricht. | |
Ein Film hingegen erinnert mehr an eine Kurzgeschichte. | |
Viele Filmklassiker beruhen auch auf Kurzgeschichten, etwa Alfred | |
Hitchcocks „Die Vögel“, Nicolas Roegs „Wenn die Gondeln Trauer tragen“… | |
Sergei Loznitsas „Die Sanfte“. Kein Straffen oder erzählerisches | |
Hinterherhecheln wie bei einer Romanverfilmung: Eine Kurzgeschichte kann | |
ein Film als Vorlage nutzen, um sie mit seinen Bildern | |
„auszubuchstabieren“. Und genau darin seine narrative Form finden. | |
## Die Zukunft? Zweidimensional auf Leinwand | |
Diese Form bietet Vorzüge im Vergleich zur Serie. Letztere könnte bei | |
unsachgemäßem Gebrauch sogar zum Binge-Watching-Burnout führen. Aus dem | |
Druck, den die Serien selbst erzeugen, immer weiter zu schauen, resultiert | |
irgendwann eine große Leere. | |
Wer in eine solche Situation gerät, kann bei Filmen sogar Trost finden. Die | |
„runden“ oder auch die überraschend unerwartet endenden Geschichten sind | |
insgesamt weniger verdächtig, was Suchterscheinungen angeht. Sie bieten | |
eine Art narrativen Schutzraum, aus dem sie ihr Publikum am Ende wieder | |
entlassen. Und es hat durchaus seinen Reiz, wenn jemand sich kurzzufassen | |
weiß. | |
Im Übrigen steuert der sich [2][diversifizierende Streamingmarkt] zum Teil | |
schon wieder weg vom Komplettangebot ganzer Staffeln. So will Disney sein | |
Angebot den Kunden häppchenweise darbieten. Wie man früher im Fernsehen | |
eine Woche auf die nächste Folge warten musste. | |
Dem Film stehen für die 20er dieses Jahrhunderts mithin interessante | |
Perspektiven bevor. Ganz schlicht zweidimensional auf der Leinwand. Denn | |
weder das 3D-Kino noch die Virtual Reality mit ihren tendenziell | |
autistischen Kopfeinsperrbrillen konnten sich bisher als ernsthafte | |
ästhetische Weiterentwicklung etablieren. Daher, ob gestreamt, auf DVD oder | |
– hoffentlich – weiter im Kino: Für diese Form gibt es auf lange Sicht noch | |
Verwendung. | |
28 Dec 2019 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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