Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die alten und die neuen 20er: Ins Offene
> Wenn man jetzt wieder von den „20ern“ spricht, passiert das oft vor der
> Folie der Weimarer Republik. Der Vergleich kann aber etwas Lähmendes
> haben.
Bild: Wenn jetzt wieder von den 20ern gesprochen wird, schwingen die 1920er oft…
Eigentlich ist es ja nur eine willkürliche gesetzte Zäsur im Ablauf der
Tage, eine Spielerei mit Daten. Irgendwann nach Silvester hängt man den
alten Wandkalender ab, ersetzt ihn durch einen neuen und trägt die ersten
Termine des noch jungen Jahres ein. Das Leben wird nicht plötzlich ein
anderes, nur weil auf dem Kalender eine andere Zahl steht. Was einen im
Dezember umgetrieben hat, beschäftigt einen meist genauso im Januar.
Unliebsame Dinge im alten Jahr zurücklassen? So richtig klappt das ja
eigentlich nie.
Obwohl man natürlich weiß, dass die Erde sich ungerührt weiterdreht, egal
welche Zahlen die Menschen ihren Tagen geben, wird das Gefühl bei diesem
Jahreswechsel doch ein besonderes sein, denn am 1. Januar beginnt –
[1][zwar nicht nach der historisch korrekten Zählweise, wohl aber nach den
umgangssprachlichen Gepflogenheiten] – ein neues Jahrzehnt. Willkommen in
den neuen 20ern!
Das Wort „neu“ ist hier wichtig, denn [2][kein anderes Jahrzehnt des 20.
Jahrhunderts ist so mythenumwoben und zurzeit so medial präsent wie die
1920er]. Wenn man jetzt wieder von „den 20ern“ spricht, blickt man auf die
kommenden Jahre daher mit einer historischen Folie im Kopf. Und gibt es
nicht tatsächlich große Parallelen?
Viele Menschen nahmen die alten 20er als Phase der extremen Beschleunigung
wahr. Technische Neuerungen veränderten das Leben – es gab neue Medien,
viel mehr Informationen und visuelle Eindrücke. Die Emanzipation der Frauen
machte große Fortschritte. Und die gesellschaftliche Stellung war längst
nicht mehr so festgezurrt wie noch im Kaiserreich. Das hieß aber auch, man
konnte viel schneller absteigen. Eine Erfahrung, die in der Hyperinflation
1923 sehr viele machten.
Die alten 20er sind in der deutschen Geschichte aber immer auch Chiffre für
eine Demokratie, die sich nicht entschieden genug gegen rechts gewehrt hat.
Weil es zu wenige überzeugte Demokraten gab, und weil sich die junge
Republik in Justiz, Verwaltung und Militär auf die alten Eliten des
Kaiserreichs stützte, die die neue Staatsform ablehnten. Der Mathematiker
Emil Julius Gumbel zeigte früh, [3][wie blind die Weimarer Justiz auf dem
rechten Auge war.]
## Bewunderung und Schauder
Wenn wir heute auf diese Zeit blicken, dann meist mit einer Mischung aus
Bewunderung für deren lebhafte Kultur und gesellschaftliche
Modernisierungsleistung und Schauder, weil am Ende der Weimarer Republik
die Terrorherrschaft der Nazis stand. Wobei das damals noch keineswegs
festgeschrieben war, die Geschichte hätte auch Ende 1929 noch einen ganz
anderen Verlauf nehmen können.
Und trotzdem gibt es wohl kein Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, das so oft
teleologisch, so zielgerichtet gelesen wird – als sei die Dekade nur ein
buntes Vorspiel und letztes Aufbäumen vor dem NS-Terror gewesen.
Wenn wir jetzt in die Zukunft und auf die neuen 20er blicken, ist es
wichtig, die Offenheit der Entwicklung im Kopf zu behalten: Nichts ist
bereits festgeschrieben. Der Vergleich mit Weimar, gepaart mit der
teleologischen Lesart, kann etwas ungemein Lähmendes haben, weil er unsere
Vorstellung der Zukunft in einen Korridor von Negativassoziationen zwängt.
Ja, es gibt Ähnlichkeiten, 2019 war das Jahr, [4][in dem in diesem Land mit
Walter Lübcke wieder ein Politiker von einem Rechtsextremen erschossen
wurde]. Wie in der Anfangsphase der Weimarer Republik. Es war auch das
Jahr, in dem ein geplanter Massenmord in einer Synagoge in Halle nur knapp
scheiterte. Und in den Parlamenten sitzt heute wieder eine Partei, die
offen mit faschistischem Gedankengut hantiert.
Und ja, wir nehmen Ballast aus dem nun vergangenen Jahrzehnt mit ins neue,
Rechtspopulisten haben in vielen Ländern die Demokratie stark beschädigt,
und der Kampf gegen die Erderhitzung – das zentrale Zukunftsthema – ist
bisher allenfalls schleppend in Gang gekommen. Aber die Geschichte der
neuen 20er ist noch nicht geschrieben. Es liegt auch an uns, wie sie
ausgeht.
31 Dec 2019
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Jahrzehnt#Datumsangabe_in_Jahrzehnten
[2] /Weimarer-Republik/!t5023483/
[3] https://www.deutschlandfunk.de/moerderische-statistik-gewalt-von-rechts.131…
[4] /Kampf-gegen-Rechtsextremismus/!5650896
## AUTOREN
Jan Pfaff
## TAGS
Zukunft
Weimarer Republik
Deutsche Geschichte
Silvester
Lesestück Recherche und Reportage
Sibylle Berg
Zukunft
## ARTIKEL ZUM THEMA
Sex in den neuen 20er Jahren: Roboter der Lust
Die Digitalisierung hat auch unser Sexleben erfasst: Dating-Apps,
ferngesteuerte Vibratoren, virtuelle Pornos. Bald nun auch: humanoide
Sexroboter.
Autorin Sibylle Berg über die neuen 20er: „Unruhe herrscht weiter, wie immer…
Was kommt im neuen Jahrzehnt auf uns zu? Die optimistische Pessimistin
Sibylle Berg über schlafende Populisten, das Netz und einfachen Sex.
Die Zukunft des Films: Narrativer Schutzraum
Serien hinterlassen oft eine große Leere. Dagegen wirken Filme in ihrer
Abgeschlossenheit eher tröstlich. Sie werden auch in Zukunft gebraucht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.